Neben dem
Wald schöpft Heidegger bei der Entstehung von „Sein und Zeit“ noch aus einer
anderen Quelle. Gerade in diesen Jahren steht er in enger Verbindung mit dem
Heidelberger Philosophen und Psychiater Karl Jaspers. Jaspers war nicht nur
Arzt, sondern auch chronisch krank. Durch seine Mukoviszidose schwebte er täglich
in der Gefahr des Erstickens. Von ihm konnte Heidegger aus erster Hand
erfahren, wie auch die schwere Krankheit jene „Grenzsituation“ herbeiführt, die
konstitutiv für die sogenannte Existenzphilosophie ist. Die Medizin als
Spezialfall der Technik ist zwar nicht ganz machtlos, doch zur Gesundheit führt
sie selten. Trotz des riesigen Medizinapparats sind heute mehr Menschen krank
als jemals zuvor.
Auch das ist Krieg |
In einer
Gesellschaft, die keinen Krieg mehr aus eigener Erfahrung kennt, wird die
Krankheit zum bevorzugten Modell für die existentielle Krise. Das Interesse an
entsprechenden Erfahrungsberichten wächst. Der „Kampf gegen den Krebs“ ist
teilweise zum Ersatz für den alten Heroismus geworden. Das geschieht wiederum
nicht aus Sensationslust. Vielmehr verspüren die Menschen auch hier den Anhauch
einer verborgenen Wahrheit.
Beispielhaft
dafür ist eine Buchbesprechung aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Es
handelt sich um den Erfahrungsbericht des Theaterregisseurs Christoph
Schlingensief, der mit 47 Jahren an Krebs gestorben ist:
„So sieht die Zukunft aus. Dabei ist die
Gegenwart schon dunkel genug. Es ist ein schreckliches Buch, das der Regisseur
und Energiekünstler Christoph Schlingensief da geschrieben hat, ein elendes,
ein wahnsinnig trauriges, ein sehr, sehr schönes Buch. Der Krebs hat die Macht
übernommen über ein Leben, das, zumindest in seinem öffentlichen Teil, immer
vor allem aus Energie, völliger Freiheit, Plötzlichkeit, mitreißendem
Enthusiasmus, Wut, immer neuen „Projekten“ und gigantischer Ausprobierfreude zu
bestehen schien. Schlingensief als teilnehmender Regisseur auf der Bühne, das
heißt ja immer elektrische Luft (und die Angst des unbeteiligten Zuschauers,
dass man jeden Augenblick geohrfeigt werden könnte oder irgendwie sonst Teil
des Dramas wird). Jetzt also: Unfreiheit total. Die Krankheit bestimmt, wie es
weitergeht.“
„Unfreiheit
total“: das ist genau die Herausforderung, die dem modernen Menschen fehlt. Und
daher kommt es, daß diese Krebsgeschichten beim Publikum paradoxerweise ein
Gefühl der Befreiung erzeugen. Sie stellen sich nämlich vor – zumindest
momentweise kann das gelingen – wie sinnlos ihre eigene beständige Suche nach
Glücksgefühlen und materieller Befriedigung ist, da bloß umgekehrt das
Überwinden einer echten Bedrohung zum Glück führen kann. Kampf gegen den Krebs
und Sieg über den Krebs - nur das erscheint plötzlich sinnvoll.
WELCH EINE
FREUDE!
Schon Ende
des 19. Jahrhunderts hat der russische Dichter Leo Tolstoi die Krankheit als
Mittel der Läuterung geschildert. In seiner Erzählung „Der Tod des Iwan
Iljitsch“ wird ein hoher Petersburger Beamter von einer schlimmen Krankheit
befallen. Während er anfangs die Krankheit zu verdrängen sucht, findet in der
Folge ein Wandlungsprozeß statt. Sein bisheriges Leben zeigt sich ihm in seiner
ganzen Hohlheit und Oberflächlichkeit. Er muß sterben und erkennt, daß er nie
wirklich gelebt hat, sondern sich nur – auch in den Amtsgeschäften – die Zeit
vertrieben hat. Neben den zunehmenden Schmerzen erfaßt ihn eine entsetzliche
Angst.
Iwan
Iljitisch verliert den Bezug zu allem, was ihn vor der Krankheit interessiert
hatte. Alles fällt ab, was bis dahin wichtig erschienen ist. Die individuelle
Person verschwindet, und es bleibt nur noch die nackte Existenz. Statt einer
Zukunftsplanung reduziert sich alles auf die nächste Minuten. Nicht nur ist der
Betroffene von allen Menschen verlassen, sondern die gesamte Welt, die ihn
normalerweise umgibt, schwindet dahin. Zu der Angst gesellt wieder die Langeweile:
„Was aber am allerschlimmsten dabei war – die
Krankheit zog ihn nicht etwa deswegen ab, damit er etwas anderes tue, sondern
nur, damit er sie betrachte, ihr gerade in die Augen schaue, sie ansehe und
sich dabei, ohne etwas tun zu können, unbeschreiblich quäle. (…) Dann ging er
wieder in sein Kabinett, legte sich nieder und war aufs neue allein mit ihr.
Auge in Auge mit ihr und wußte doch nicht, was er mit ihr beginnen sollte.
Immer nur sie anschauen und erstarren.“
Aug in Aug
mit dem Feind kann ihn nichts kann ihn mehr ablenken, nichts zerstreuen, nichts
beschäftigen. Es gibt nur dieses Gegenüber, das unbekannt, ungreifbar,
unheimlich und doch so nahe ist.
Ferdinand Hodler dokumentiert |
Es ist eine
ähnliche Situation wie in den von Jünger beschriebenen Schützengräben. Es ist
auch die Situation des Verhungernden oder Erfrierenden in der Wildnis. Da ist
etwas, das alles, was bisher galt, zunichte macht und auslöscht. Ich bin nichts
mehr als die Wahrnehmung und Empfindung dieses Anderen. Was sich innerhalb der
Zivilisation zum Absolutum spreizt, die Person, das Individuum, verschwinden
ganz.
Tolstoi war
bekanntlich sehr religiös. Er operiert aber nie mit theologischen Systemen und
kirchlichen Institutionen. So findet der Kranke in seiner überkommenen, zuvor
gedankenlos praktizierten Religion keinerlei Trost. Sie fällt ebenso ins Nichts
zurück wie alles andere. Erst ganz zum Schluß der Erzählung ereignet sich
etwas, das einer Rettung ähnelt. Nur wenige Stunden vor seinem Tod beginnt Iwan
Iljitsch zu begreifen, daß das, was ihm in der Krankheit begegnet ist, und was
ihn zugrunde richtete, seine letzte Chance war, den Sinn des Daseins zu finden,
und daß er im Tod das Leben gewonnen hat. Einmal fragt er sich,„ob es möglich wäre, daß sie allein (die
Krankheit) die Wahrheit sei.“ Doch dann:
„Warum diese Qualen? Und die Stimme
antwortete: Weil das so ist und aus keinem besonderen Anlaß. Außer diesem war
weiter nichts da.“
Es zeigt
sich, daß die Geschichte letzten Endes genauso sinnlos und grausam ist wie die
Natur. Die Geschichte und die Technik sind nicht die Erlösung von der Natur,
wie es die Fortschrittsgläubigen hoffen, sondern sie wiederholen nur den
nackten Existenzkampf auf einer anderen Ebene. Zugleich kommt aber auch die
Erkenntnis:
„Es ist nicht das Wahre – all das, wofür ich
gelebt habe und lebe, ist Lüge und Betrug; Lüge und Betrug haben Leben und Tod
vor mir verborgen gehalten.“
In dieser
Erkenntnis liegt die Rettung. Sie kehrt alles um:
„An Stelle des Todes war ein Licht da. So ist
das also! sagte er plötzlich laut. Welch eine Freude!“
Aus dieser
christlichen Erleuchtung, die Tolstoi aktualisieren will, entsteht einige
Jahrzehnte später bei Jünger, Schmitt und Heidegger ein „heroischen Realismus“.
Es ist eine neue Art Religiosität, die nicht mehr auf Erlösung hofft, sondern das
Leben selber in seiner ganzen Härte bejaht und feiert.
Arno Breker: Der Kampf |
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