Donnerstag, 2. Februar 2012

Krieg 5

UNFREIHEIT TOTAL

Neben dem Wald schöpft Heidegger bei der Entstehung von „Sein und Zeit“ noch aus einer anderen Quelle. Gerade in diesen Jahren steht er in enger Verbindung mit dem Heidelberger Philosophen und Psychiater Karl Jaspers. Jaspers war nicht nur Arzt, sondern auch chronisch krank. Durch seine Mukoviszidose schwebte er täglich in der Gefahr des Erstickens. Von ihm konnte Heidegger aus erster Hand erfahren, wie auch die schwere Krankheit jene „Grenzsituation“ herbeiführt, die konstitutiv für die sogenannte Existenzphilosophie ist. Die Medizin als Spezialfall der Technik ist zwar nicht ganz machtlos, doch zur Gesundheit führt sie selten. Trotz des riesigen Medizinapparats sind heute mehr Menschen krank als jemals zuvor.
Auch das ist Krieg

In einer Gesellschaft, die keinen Krieg mehr aus eigener Erfahrung kennt, wird die Krankheit zum bevorzugten Modell für die existentielle Krise. Das Interesse an entsprechenden Erfahrungsberichten wächst. Der „Kampf gegen den Krebs“ ist teilweise zum Ersatz für den alten Heroismus geworden. Das geschieht wiederum nicht aus Sensationslust. Vielmehr verspüren die Menschen auch hier den Anhauch einer verborgenen Wahrheit.
Beispielhaft dafür ist eine Buchbesprechung aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Es handelt sich um den Erfahrungsbericht des Theaterregisseurs Christoph Schlingensief, der mit 47 Jahren an Krebs gestorben ist:
So sieht die Zukunft aus. Dabei ist die Gegenwart schon dunkel genug. Es ist ein schreckliches Buch, das der Regisseur und Energiekünstler Christoph Schlingensief da geschrieben hat, ein elendes, ein wahnsinnig trauriges, ein sehr, sehr schönes Buch. Der Krebs hat die Macht übernommen über ein Leben, das, zumindest in seinem öffentlichen Teil, immer vor allem aus Energie, völliger Freiheit, Plötzlichkeit, mitreißendem Enthusiasmus, Wut, immer neuen „Projekten“ und gigantischer Ausprobierfreude zu bestehen schien. Schlingensief als teilnehmender Regisseur auf der Bühne, das heißt ja immer elektrische Luft (und die Angst des unbeteiligten Zuschauers, dass man jeden Augenblick geohrfeigt werden könnte oder irgendwie sonst Teil des Dramas wird). Jetzt also: Unfreiheit total. Die Krankheit bestimmt, wie es weitergeht.“
„Unfreiheit total“: das ist genau die Herausforderung, die dem modernen Menschen fehlt. Und daher kommt es, daß diese Krebsgeschichten beim Publikum paradoxerweise ein Gefühl der Befreiung erzeugen. Sie stellen sich nämlich vor – zumindest momentweise kann das gelingen – wie sinnlos ihre eigene beständige Suche nach Glücksgefühlen und materieller Befriedigung ist, da bloß umgekehrt das Überwinden einer echten Bedrohung zum Glück führen kann. Kampf gegen den Krebs und Sieg über den Krebs - nur das erscheint plötzlich sinnvoll.
WELCH EINE FREUDE!
Schon Ende des 19. Jahrhunderts hat der russische Dichter Leo Tolstoi die Krankheit als Mittel der Läuterung geschildert. In seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ wird ein hoher Petersburger Beamter von einer schlimmen Krankheit befallen. Während er anfangs die Krankheit zu verdrängen sucht, findet in der Folge ein Wandlungsprozeß statt. Sein bisheriges Leben zeigt sich ihm in seiner ganzen Hohlheit und Oberflächlichkeit. Er muß sterben und erkennt, daß er nie wirklich gelebt hat, sondern sich nur – auch in den Amtsgeschäften – die Zeit vertrieben hat. Neben den zunehmenden Schmerzen erfaßt ihn eine entsetzliche Angst.
Iwan Iljitisch verliert den Bezug zu allem, was ihn vor der Krankheit interessiert hatte. Alles fällt ab, was bis dahin wichtig erschienen ist. Die individuelle Person verschwindet, und es bleibt nur noch die nackte Existenz. Statt einer Zukunftsplanung reduziert sich alles auf die nächste Minuten. Nicht nur ist der Betroffene von allen Menschen verlassen, sondern die gesamte Welt, die ihn normalerweise umgibt, schwindet dahin. Zu der Angst gesellt wieder die Langeweile:
Was aber am allerschlimmsten dabei war – die Krankheit zog ihn nicht etwa deswegen ab, damit er etwas anderes tue, sondern nur, damit er sie betrachte, ihr gerade in die Augen schaue, sie ansehe und sich dabei, ohne etwas tun zu können, unbeschreiblich quäle. (…) Dann ging er wieder in sein Kabinett, legte sich nieder und war aufs neue allein mit ihr. Auge in Auge mit ihr und wußte doch nicht, was er mit ihr beginnen sollte. Immer nur sie anschauen und erstarren.
Aug in Aug mit dem Feind kann ihn nichts kann ihn mehr ablenken, nichts zerstreuen, nichts beschäftigen. Es gibt nur dieses Gegenüber, das unbekannt, ungreifbar, unheimlich und doch so nahe ist.
Ferdinand Hodler dokumentiert


Es ist eine ähnliche Situation wie in den von Jünger beschriebenen Schützengräben. Es ist auch die Situation des Verhungernden oder Erfrierenden in der Wildnis. Da ist etwas, das alles, was bisher galt, zunichte macht und auslöscht. Ich bin nichts mehr als die Wahrnehmung und Empfindung dieses Anderen. Was sich innerhalb der Zivilisation zum Absolutum spreizt, die Person, das Individuum, verschwinden ganz.
Tolstoi war bekanntlich sehr religiös. Er operiert aber nie mit theologischen Systemen und kirchlichen Institutionen. So findet der Kranke in seiner überkommenen, zuvor gedankenlos praktizierten Religion keinerlei Trost. Sie fällt ebenso ins Nichts zurück wie alles andere. Erst ganz zum Schluß der Erzählung ereignet sich etwas, das einer Rettung ähnelt. Nur wenige Stunden vor seinem Tod beginnt Iwan Iljitsch zu begreifen, daß das, was ihm in der Krankheit begegnet ist, und was ihn zugrunde richtete, seine letzte Chance war, den Sinn des Daseins zu finden, und daß er im Tod das Leben gewonnen hat. Einmal fragt er sich,„ob es möglich wäre, daß sie allein (die Krankheit) die Wahrheit sei.“ Doch dann:
Warum diese Qualen? Und die Stimme antwortete: Weil das so ist und aus keinem besonderen Anlaß. Außer diesem war weiter nichts da.“
Es zeigt sich, daß die Geschichte letzten Endes genauso sinnlos und grausam ist wie die Natur. Die Geschichte und die Technik sind nicht die Erlösung von der Natur, wie es die Fortschrittsgläubigen hoffen, sondern sie wiederholen nur den nackten Existenzkampf auf einer anderen Ebene. Zugleich kommt aber auch die Erkenntnis:
Es ist nicht das Wahre – all das, wofür ich gelebt habe und lebe, ist Lüge und Betrug; Lüge und Betrug haben Leben und Tod vor mir verborgen gehalten.“
In dieser Erkenntnis liegt die Rettung. Sie kehrt alles um:
An Stelle des Todes war ein Licht da. So ist das also! sagte er plötzlich laut. Welch eine Freude!
Aus dieser christlichen Erleuchtung, die Tolstoi aktualisieren will, entsteht einige Jahrzehnte später bei Jünger, Schmitt und Heidegger ein „heroischen Realismus“. Es ist eine neue Art Religiosität, die nicht mehr auf Erlösung hofft, sondern das Leben selber in seiner ganzen Härte bejaht und feiert.
Arno Breker: Der Kampf


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