Donnerstag, 2. Februar 2012

Krieg 4

DIE HERAUS-FORDERUNG

Aus gesundheitlichen Gründen hat Martin Heidegger nicht am Weltkrieg teilgenommen. Trotzdem gründet sein Werk auf einer ähnlichen Erfahrung. Woher bezieht er seine existentiellen Wahrheiten?
Mitte der 30er Jahre erhält Heidegger einen Ruf in die Hauptstadt Berlin. Für ihn wäre es ein Karrieresprung gewesen, trotzdem lehnt er ab. In dem Beitrag „Warum wir in der Provinz bleiben“ begründet er diese Ablehnung damit, daß sein Denken an den Schwarzwald als Ursprung gebunden sei. Damit ist nicht etwa gemeint, daß hier à la „Schwarzwaldklinik“ die heile Welt zu finden sei. Die Heimat hielt aber für ihn die Erfahrungen bereit, die eine theoretische Erkenntnis erst fundieren. Konkret bezieht sich das auf die regelmäßigen Aufenthalte in der Hütte, das Wandern und Skilaufen im Wald.
Nun klingt das für jemand, der modernen Wintersport gewohnt ist, nicht gerade existentiell bedrohlich. Obwohl weiterhin Unfälle in den Bergen passieren, auch dort, wo man bereits alles touristisch erschlossen wähnte. Wie weit das „innere Erlebnis“ eines Stadtmenschen im Gebirge gehen kann, schildert Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ (1924). Was der Philosoph gemeint haben mag, nimmt in dem berühmten „Schneekapitel“ Gestalt an.
Der junge Ingenieur Hans Castorp ist zunächst als Besucher in einem Sanatorium, das im Hochgebirge liegt. Nach einer Weile sagt ihm das bequeme Leben in dem komfortablen Gebäude jedoch nicht mehr zu, und er leiht sich Skier, um einen Ausflug in die Berge zu machen. Schon bedient er sich also einer einfachen Technik, um der Natur Herr zu werden. Das Skilaufen in der damaligen Form wird detailliert beschrieben. Doch nützt es Hans nichts. Schon nach kurzer Zeit verliert er im dichten Schneetreiben die Orientierung. Nur eine knappe Stunde vom Haus entfernt, beginnt plötzlich eine weiße Wildnis, in der er unterzugehen droht:
Es war schön im winterlichen Gebirge, - nicht schön auf gelinde und freundliche Weise, sondern so, wie die Nordseewildnis schön ist bei starkem West, - zwar ohne Donnerlärm, sondern in Totenstille, doch ganz verwandte Ehrfurchtsgefühle weckend.“
Es war das Urschweigen, das Hans Castorp belauschte, wenn er so stand, auf seinen Stock gestützt, den Kopf zur Seite geneigt, mit offenem Munde; und still und unablässig schneite es weiter darin, ruhig hinsinkend, ohne einen Laut.
Nein, diese Welt in ihrem bodenlosen Schweigen (…) Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen.
Wir können jetzt schon besser verstehen, was Heidegger im Schwarzwald suchte: die Ehrfurcht, das Schweigen, das Elementare, vielleicht auch das „Tödlich-Gleichgültige“. Das ist keine Heimatidylle, sondern die Natur selbst, die im zivilisierten Leben nur als Ausnahme und nur, wenn die Technik versagt, noch in ihrer Größe zu erleben ist. Thomas Mann spricht von einer „frommen Erschütterung“, einem „heimlich-heiligen Schrecken“ sowie von der „begeisternden Berührung mit der tödlichen Natur“. Schließlich kommt das Wort, das solche seltenen Naturerlebnisse mit den Kriegserlebnissen, der entfesselten Technik, verbindet:
Was aber in Hans Castorps Seele vorging, war nur mit einem Wort zu bezeichnen: Herausforderung.
Reinhold Messmer am Nanga Parbat


Die ungeahnte Herausforderung erzeugt ein Gefühl der Lebendigkeit, das der Zivilisationsmensch fast vergessen hatte. Er spürt „das ist das Leben“, nämlich an der Grenze zum Tod zu stehen, und dieses Leben war für unsere Vorfahren einst selbstverständlich. Wie das Tier befanden sie sich ständig im Kampf mit widrigen Umständen. Für dieses Leben sind auch wir Menschen genetisch angelegt. Wir leben jedoch in einer Umkehrsituation, wo das Normale längst nicht mehr das Natürliche und das Natürliche das Extreme und Gefürchtete ist. Werden wir aber einmal in dieses Natürliche hineingeschleudert, dann entsteht eine Begeisterung, die man sonst allenfalls unter Drogen oder in Psychosen erlebt.
Nihilismus unbekannt

Nicht umsonst bezieht sich Heidegger immer wieder auf Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Und umgekehrt gibt es Rettung nur in der Gefahr. So meldet sich Hans Castorp, der weder durch das Hochgebirge noch durch die Tuberkulose nahe genug an den Abgrund geraten ist, am Schluß des Romans freiwillig in der Krieg.

Trotz seiner Abbitte für die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ und sein Eintreten für die Weimarer Demokratie gehört auch Thomas Mann zu denjenigen Deutschen, die das Heil nicht im weiteren Fortschritt, sondern im Ausbruch aus dem Fortschrittsdenken suchen: Heil durch das, was die anderen Unheil nennen. Auch kulturgeschichtlich wird dem Leser dies vorgeführt in dem Traum, den Hans während seines gefährlichen Schlafes in der weißen Wildnis träumt. Er handelt von einem Land, das hinter dem vorbildhaften klassischen Griechenland liegt, und wo sich entsetzliche Rituale abspielen: Zwei Hexen verzehren das Fleisch eines Säuglings. Kannibalismus – der Dichter macht klar, daß in solcher Barbarei nicht das Ende, sondern die geheime Quelle aller Kultur liegt.
KANNIBALISMUS
Wie modern und realistisch der Gedanke ist, zeigt sich etwa am legendär gewordenen Absturz eines Passagierflugzeuges 1972 in den Anden. In der schneebedeckten Bergwelt blieben die eben noch komfortabel von Stewardessen versorgten Menschen über zwei Monate gefangen. Um zu überleben, aßen sie das Fleisch der beim Absturz getöteten Mitpassagiere. Nach der überraschenden Rettung machte die Geschichte in der Presse als „Gruselstory“ weltweit die Runde. Warum aber hören die Leute solche Geschichten so gern? Nicht nur aus „Sensationslust“, sondern weil sie dahinter eine verborgene, verschwiegene Wahrheit wittern. So mag es einem im Zeitalter der Flughäfen und Hotelketten zwar vorkommen, als ob es bereits egal sei, auf welchem Platz der Erde man sich gerade befindet. Spätestens nach einem „verunglückten Trip“ weiß man aber, daß es zumindest einen Unterschied immer noch gibt: nämlich innerhalb und außerhalb der Zivilisation.

Hunger ist der beste Koch

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