Aus
gesundheitlichen Gründen hat Martin Heidegger nicht am Weltkrieg teilgenommen.
Trotzdem gründet sein Werk auf einer ähnlichen Erfahrung. Woher bezieht er
seine existentiellen Wahrheiten?
Mitte der
30er Jahre erhält Heidegger einen Ruf in die Hauptstadt Berlin. Für ihn wäre es
ein Karrieresprung gewesen, trotzdem lehnt er ab. In dem Beitrag „Warum wir in
der Provinz bleiben“ begründet er diese Ablehnung damit, daß sein Denken an den
Schwarzwald als Ursprung gebunden sei. Damit ist nicht etwa gemeint, daß hier à
la „Schwarzwaldklinik“ die heile Welt zu finden sei. Die Heimat hielt aber für
ihn die Erfahrungen bereit, die eine theoretische Erkenntnis erst fundieren.
Konkret bezieht sich das auf die regelmäßigen Aufenthalte in der Hütte, das
Wandern und Skilaufen im Wald.
Nun klingt
das für jemand, der modernen Wintersport gewohnt ist, nicht gerade existentiell
bedrohlich. Obwohl weiterhin Unfälle in den Bergen passieren, auch dort, wo man
bereits alles touristisch erschlossen wähnte. Wie weit das „innere Erlebnis“
eines Stadtmenschen im Gebirge gehen kann, schildert Thomas Mann in seinem
Roman „Der Zauberberg“ (1924). Was der Philosoph gemeint haben mag, nimmt in
dem berühmten „Schneekapitel“ Gestalt an.
Der junge
Ingenieur Hans Castorp ist zunächst als Besucher in einem Sanatorium, das im
Hochgebirge liegt. Nach einer Weile sagt ihm das bequeme Leben in dem
komfortablen Gebäude jedoch nicht mehr zu, und er leiht sich Skier, um einen
Ausflug in die Berge zu machen. Schon bedient er sich also einer einfachen
Technik, um der Natur Herr zu werden. Das Skilaufen in der damaligen Form wird
detailliert beschrieben. Doch nützt es Hans nichts. Schon nach kurzer Zeit
verliert er im dichten Schneetreiben die Orientierung. Nur eine knappe Stunde
vom Haus entfernt, beginnt plötzlich eine weiße Wildnis, in der er unterzugehen
droht:
„Es war schön im winterlichen Gebirge, -
nicht schön auf gelinde und freundliche Weise, sondern so, wie die
Nordseewildnis schön ist bei starkem West, - zwar ohne Donnerlärm, sondern in
Totenstille, doch ganz verwandte Ehrfurchtsgefühle weckend.“
„Es war das Urschweigen, das Hans Castorp
belauschte, wenn er so stand, auf seinen Stock gestützt, den Kopf zur Seite
geneigt, mit offenem Munde; und still und unablässig schneite es weiter darin,
ruhig hinsinkend, ohne einen Laut.“
„Nein, diese Welt in ihrem bodenlosen
Schweigen (…) Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal
Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr
ausgingen.“
Wir können
jetzt schon besser verstehen, was Heidegger im Schwarzwald suchte: die
Ehrfurcht, das Schweigen, das Elementare, vielleicht auch das „Tödlich-Gleichgültige“.
Das ist keine Heimatidylle, sondern die Natur selbst, die im zivilisierten
Leben nur als Ausnahme und nur, wenn die Technik versagt, noch in ihrer Größe
zu erleben ist. Thomas Mann spricht von einer „frommen Erschütterung“, einem „heimlich-heiligen
Schrecken“ sowie von der „begeisternden
Berührung mit der tödlichen Natur“. Schließlich kommt das Wort, das solche
seltenen Naturerlebnisse mit den Kriegserlebnissen, der entfesselten Technik,
verbindet:
„Was aber in Hans Castorps Seele vorging, war
nur mit einem Wort zu bezeichnen: Herausforderung.“
Reinhold Messmer am Nanga Parbat |
Die ungeahnte
Herausforderung erzeugt ein Gefühl der Lebendigkeit, das der
Zivilisationsmensch fast vergessen hatte. Er spürt „das ist das Leben“, nämlich
an der Grenze zum Tod zu stehen, und dieses Leben war für unsere Vorfahren
einst selbstverständlich. Wie das Tier befanden sie sich ständig im Kampf mit widrigen
Umständen. Für dieses Leben sind auch wir Menschen genetisch angelegt. Wir
leben jedoch in einer Umkehrsituation, wo das Normale längst nicht mehr das
Natürliche und das Natürliche das Extreme und Gefürchtete ist. Werden wir aber
einmal in dieses Natürliche hineingeschleudert, dann entsteht eine
Begeisterung, die man sonst allenfalls unter Drogen oder in Psychosen erlebt.
Nihilismus unbekannt |
Nicht umsonst
bezieht sich Heidegger immer wieder auf Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr
ist, wächst das Rettende auch.“ Und umgekehrt gibt es Rettung nur in der
Gefahr. So meldet sich Hans Castorp, der weder durch das Hochgebirge noch durch
die Tuberkulose nahe genug an den Abgrund geraten ist, am Schluß des Romans
freiwillig in der Krieg.
Trotz seiner
Abbitte für die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ und sein Eintreten für die
Weimarer Demokratie gehört auch Thomas Mann zu denjenigen Deutschen, die das
Heil nicht im weiteren Fortschritt, sondern im Ausbruch aus dem
Fortschrittsdenken suchen: Heil durch das, was die anderen Unheil nennen. Auch
kulturgeschichtlich wird dem Leser dies vorgeführt in dem Traum, den Hans
während seines gefährlichen Schlafes in der weißen Wildnis träumt. Er handelt
von einem Land, das hinter dem vorbildhaften klassischen Griechenland liegt,
und wo sich entsetzliche Rituale abspielen: Zwei Hexen verzehren das Fleisch
eines Säuglings. Kannibalismus – der Dichter macht klar, daß in solcher
Barbarei nicht das Ende, sondern die geheime Quelle aller Kultur liegt.
KANNIBALISMUS
Wie modern
und realistisch der Gedanke ist, zeigt sich etwa am legendär gewordenen Absturz
eines Passagierflugzeuges 1972 in den Anden. In der schneebedeckten Bergwelt
blieben die eben noch komfortabel von Stewardessen versorgten Menschen über
zwei Monate gefangen. Um zu überleben, aßen sie das Fleisch der beim Absturz
getöteten Mitpassagiere. Nach der überraschenden Rettung machte die Geschichte
in der Presse als „Gruselstory“ weltweit die Runde. Warum aber hören die Leute
solche Geschichten so gern? Nicht nur aus „Sensationslust“, sondern weil sie
dahinter eine verborgene, verschwiegene Wahrheit wittern. So mag es einem im
Zeitalter der Flughäfen und Hotelketten zwar vorkommen, als ob es bereits egal
sei, auf welchem Platz der Erde man sich gerade befindet. Spätestens nach einem
„verunglückten Trip“ weiß man aber, daß es zumindest einen Unterschied immer noch
gibt: nämlich innerhalb und außerhalb der Zivilisation.
Hunger ist der beste Koch |
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