Die Formulierung
vom „Kriegsausbruch“ paßt linken Historikern nicht, weil es für jeden Krieg bestimmte
Gründe gibt. Doch Gründe gibt es auch für den Ausbruch eines Vulkans oder den
Ausbruch einer Krankheit oder eines Feuers: es gibt Gründe, und in vielen
Fällen lassen sich diese Gründe sogar lückenlos rekonstruieren. So wird es
neuerdings mit ungeklärten Flugzeugabstürzen gemacht: Spezialisten werden
eingesetzt, die nach Jahren noch aufklären, wo ein Kabel durchgebrannt ist, und
wo der Kapitän patzte. Doch gibt es auch eine ganz andere Seite, nämlich die Leute
im Flugzeug, die erleben, wie plötzlich die Katastrophe in ihr geruhsames
Dasein einbricht.
Auch wie die
Panik „ausbrach“, die auf der Love Parade zu Hunderten Toter führte, ist
inzwischen genau rekonstruiert worden. Woran es lag, wie es sich entwickelte,
wie es hätte verhindert werden können. Trotz aller nachträglichen Einsichten
aber passieren solche Katastrophen immer wieder. Immer wieder verknüpfen sich die
Umstände so, daß etwas geschieht, was die Grenzen des Gewohnten, des
Vorstellbaren, des Erträglichen sprengt. Die „linke“ Sicht auf Kriege und
Katastrophen geht immer davon aus, daß man es beim nächsten Mal verhindern
müsse. Die andere Sicht geht davon aus, daß es passiert und immer wieder
passieren wird.
Für die
Wirkung spielt es gar keine Rolle, ob die Katastrophe ein Naturereignis ist
(wie der Tsunami), oder ob die Technik versagt (wie in Tschernobyl), oder ob
sich beides verknüpft (wie in Fukushima). Sobald die Technik außer Kontrolle
gerät, verwandelt sie sich selbst in eine potenzierte Naturkraft. Das Gefühl
der Hilflosigkeit und der Ohnmacht ist das gleiche, und der Mensch wird in eine
Steinzeit zurückgeschleudert, als er noch das Gewitter fürchtete. Das
fortwährende Versagen der Technik bezeugt, daß es sich nicht um echte
Naturbeherrschung handelt, sondern bloß um eine vorübergehende Manipulation der
Natur.
Tsunami in Indonesien |
Fukushima in Japan |
Vor diesem
Hintergrund ist der Titel von Ernst Jüngers Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ zu
verstehen. Die einschlagenden Geschosse kommen zwar von Menschen und sind von
Menschen konstruiert worden, aber ihre Wirkung auf den einzelnen gleicht dem
Walten der Natur: unbegreiflich, übermächtig, unausweichlich – und erhaben. Das
Kriegserlebnis bringt dem zivilisierten Menschen das bereits verlorene echte
Naturerlebnis zurück. Das hat nichts mehr zu tun mit Kriegsgründen und
Kriegszielen, auch nicht mit Vaterlandsliebe, sondern zielt auf die
Kriegserfahrung schlechthin. Es geht um den Zusammenbruch einer Zivilisation.
Ausbruch,
Einbruch, Zusammenbruch und Durchbruch sind die Kennzeichen der Erfahrung von
1914 – 18. Daher kommt auch die Kriegsbegeisterung, die bei vielen über den
realen Schrecken und die Niederlage hinaus bestehen blieb. Sie beharrten auf
ihren Kriegserlebnissen nicht nur, weil sie im Frieden kein wirtschaftliches
Auskommen fanden, sondern auch, weil ihnen das bürgerliche Leben fragwürdig
geworden war. Und zwar auf ganz andere Weise fragwürdig als dem schwärmerischen
Bohemien von vor 1914. Der hatte sich über die Ebene des Geldverdienens und der
Anpassung aufschwingen wollen zu einer diffus-genialischen
Selbstverwirklichung. Der Soldat hingegen sucht das reale Fundament der Dinge, die
Bewährung an Aufgaben, die den ursprünglichen Wert eines Menschen – seine
Fähigkeit zum Überleben – zutage fördern.
So erfährt auch
der junge Hitler im Krieg direkt die ungeschminkte Wahrheit des Lebens. Jetzt
erst fallen die ästhetizistischen Neigungen von ihm ab, und die Kunst ist
fortan nur Unterhaltung oder ideologisches Mittel. Seine Begeisterung gilt
fortan jener „Brutalität des Lebens“, die er im Krieg erfahren hat – und die
ihn auch persönlich von der bürgerlichen Verkorkstheit und den falschen
Ansprüchen befreite. Sicher hat Hitler sich später einen Komfort geschaffen,
von dem er früher in Wien nur träumen konnte, doch das bedeutet ihm nichts
mehr. Er ist unabhängig von allen Annehmlichkeiten und unbestechlich geworden
durch die Erfahrung des Krieges, die ihm zeigt, worauf es letztlich ankommt. Was
ihn seitdem nur noch interessierte, ist die Substanz der Dinge, das, was ihnen
die Stärke verleiht. Beim Menschen erhält diese Substanz zunehmend den Namen
„Rasse“. „Rasse“ ist demnach eine Qualität, die sich in
Entscheidungssituationen zeigt, während die Zivilisation eher den
„Minderrassigen“ zur Herrschaft bringt.
Sicher gibt
es zwischen den beiden Lebensphasen auch Kontinuitäten. Sie können die Leser
von „Mein Kampf“ über den Bruch hinwegtäuschen. Sicher war Hitler auch schon
vorher Antisemit (wer war es damals nicht?) und national gesinnt (im Bürgertum
äußerst verbreitet). Schon früh hatte er – darauf ist zur Genüge hingewiesen
worden – die „Ostara“-Hefte gelesen, in denen blonde Schönheiten von schwarzen
Affenmenschen mißbraucht werden. Den gleichen rassistischen, antisemitischen
und deutschtümelnden Anschauungen huldigte die ganze Wagner-Gemeinde, der der
junge Hitler sich zugehörig fühlte. Die Oberfläche seiner Weltanschauung hatte
sich kaum verändert, als er nach dem Krieg in München in die Politik einstieg.
Doch das täuscht. Die Fundamente sind beim nationalen Bürgertum, dem Hitler
sich vor 1914 zurechnen konnte (trotz seiner Mittellosigkeit), völlig andere
als bei dem nun entstehenden Nationalsozialismus. Das nationale Bürgertum denkt
ästhetisch-idealistisch, es basiert auf den Resten des deutschen Idealismus,
auf Goethe, Schiller und Fichte, vielleicht auch Schopenhauer. Daran klammerte
sich eine Schicht, die die Bedingung ihrer eigenen Existenz nicht reflektieren
wollte: den modernen Kapitalismus.
RADIKALER ALS
DER MARXISMUS
Nie hätten
Hitler und der Nationalsozialismus dem Marxismus auf Augenhöhe begegnen können,
wenn ihre Ideologie noch auf bürgerlichen Anschauungen beruht hätte. Die
Marxisten haben ihre Theorie von Basis und Überbau. Damit nehmen sie jeder
bürgerlichen Ideologie den Wind aus den Segeln. Die Marxisten vertreten einen
ökonomisch orientierten Materialismus. Dem tritt Hitler nun mit einem
biologisch begründeten Materialismus entgegen, der sich von Darwin und Houston
Stewart Chamberlain herleitet. Das bedeutet für die Marxisten zumindest eine
echte Herausforderung – setzt doch die Biologie noch radikaler an als die
Ökonomie, nämlich bei der evolutionären Herkunft des Menschen, die Marx noch
gar nicht bekannt war.
Marx noch nicht bekannt |
Diese
entscheidende Wende zu einer modernen (oder zumindest pseudo-modernen)
Argumentation – zu einem eigenen Materialismus – hat Hitler nicht theoretischen
Studien zu verdanken, sondern dem Kriegsereignis. Intuitiv begriff er, daß nach
diesen Erfahrungen eine Rückkehr zum Idealismus nicht mehr möglich war. Die
nationalen Texte las er jetzt anders – biologistisch. So konnte sich eine
moderne Antimoderne bilden: der Nationalsozialismus. Sicher hat die sogenannte
„konservative Revolution“ damit eine Verwandtschaft. Die KR ist aber immer noch
idealistisch. Sie ruft zu einer inneren Wandlung auf. Die Wandlung kommt aber
aus den historischen Tatsachen – entsprechend der marxistischen Lehre.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen