Mittwoch, 1. Februar 2012

Krieg 2

AUSBRUCH, DURCHBRUCH, AUFBRUCH, ZUSAMMENBRUCH

Die Formulierung vom „Kriegsausbruch“ paßt linken Historikern nicht, weil es für jeden Krieg bestimmte Gründe gibt. Doch Gründe gibt es auch für den Ausbruch eines Vulkans oder den Ausbruch einer Krankheit oder eines Feuers: es gibt Gründe, und in vielen Fällen lassen sich diese Gründe sogar lückenlos rekonstruieren. So wird es neuerdings mit ungeklärten Flugzeugabstürzen gemacht: Spezialisten werden eingesetzt, die nach Jahren noch aufklären, wo ein Kabel durchgebrannt ist, und wo der Kapitän patzte. Doch gibt es auch eine ganz andere Seite, nämlich die Leute im Flugzeug, die erleben, wie plötzlich die Katastrophe in ihr geruhsames Dasein einbricht.
Auch wie die Panik „ausbrach“, die auf der Love Parade zu Hunderten Toter führte, ist inzwischen genau rekonstruiert worden. Woran es lag, wie es sich entwickelte, wie es hätte verhindert werden können. Trotz aller nachträglichen Einsichten aber passieren solche Katastrophen immer wieder. Immer wieder verknüpfen sich die Umstände so, daß etwas geschieht, was die Grenzen des Gewohnten, des Vorstellbaren, des Erträglichen sprengt. Die „linke“ Sicht auf Kriege und Katastrophen geht immer davon aus, daß man es beim nächsten Mal verhindern müsse. Die andere Sicht geht davon aus, daß es passiert und immer wieder passieren wird.

Für die Wirkung spielt es gar keine Rolle, ob die Katastrophe ein Naturereignis ist (wie der Tsunami), oder ob die Technik versagt (wie in Tschernobyl), oder ob sich beides verknüpft (wie in Fukushima). Sobald die Technik außer Kontrolle gerät, verwandelt sie sich selbst in eine potenzierte Naturkraft. Das Gefühl der Hilflosigkeit und der Ohnmacht ist das gleiche, und der Mensch wird in eine Steinzeit zurückgeschleudert, als er noch das Gewitter fürchtete. Das fortwährende Versagen der Technik bezeugt, daß es sich nicht um echte Naturbeherrschung handelt, sondern bloß um eine vorübergehende Manipulation der Natur.

Tsunami in Indonesien




Fukushima in Japan



Vor diesem Hintergrund ist der Titel von Ernst Jüngers Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ zu verstehen. Die einschlagenden Geschosse kommen zwar von Menschen und sind von Menschen konstruiert worden, aber ihre Wirkung auf den einzelnen gleicht dem Walten der Natur: unbegreiflich, übermächtig, unausweichlich – und erhaben. Das Kriegserlebnis bringt dem zivilisierten Menschen das bereits verlorene echte Naturerlebnis zurück. Das hat nichts mehr zu tun mit Kriegsgründen und Kriegszielen, auch nicht mit Vaterlandsliebe, sondern zielt auf die Kriegserfahrung schlechthin. Es geht um den Zusammenbruch einer Zivilisation.
Ausbruch, Einbruch, Zusammenbruch und Durchbruch sind die Kennzeichen der Erfahrung von 1914 – 18. Daher kommt auch die Kriegsbegeisterung, die bei vielen über den realen Schrecken und die Niederlage hinaus bestehen blieb. Sie beharrten auf ihren Kriegserlebnissen nicht nur, weil sie im Frieden kein wirtschaftliches Auskommen fanden, sondern auch, weil ihnen das bürgerliche Leben fragwürdig geworden war. Und zwar auf ganz andere Weise fragwürdig als dem schwärmerischen Bohemien von vor 1914. Der hatte sich über die Ebene des Geldverdienens und der Anpassung aufschwingen wollen zu einer diffus-genialischen Selbstverwirklichung. Der Soldat hingegen sucht das reale Fundament der Dinge, die Bewährung an Aufgaben, die den ursprünglichen Wert eines Menschen – seine Fähigkeit zum Überleben – zutage fördern.

So erfährt auch der junge Hitler im Krieg direkt die ungeschminkte Wahrheit des Lebens. Jetzt erst fallen die ästhetizistischen Neigungen von ihm ab, und die Kunst ist fortan nur Unterhaltung oder ideologisches Mittel. Seine Begeisterung gilt fortan jener „Brutalität des Lebens“, die er im Krieg erfahren hat – und die ihn auch persönlich von der bürgerlichen Verkorkstheit und den falschen Ansprüchen befreite. Sicher hat Hitler sich später einen Komfort geschaffen, von dem er früher in Wien nur träumen konnte, doch das bedeutet ihm nichts mehr. Er ist unabhängig von allen Annehmlichkeiten und unbestechlich geworden durch die Erfahrung des Krieges, die ihm zeigt, worauf es letztlich ankommt. Was ihn seitdem nur noch interessierte, ist die Substanz der Dinge, das, was ihnen die Stärke verleiht. Beim Menschen erhält diese Substanz zunehmend den Namen „Rasse“. „Rasse“ ist demnach eine Qualität, die sich in Entscheidungssituationen zeigt, während die Zivilisation eher den „Minderrassigen“ zur Herrschaft bringt.
Sicher gibt es zwischen den beiden Lebensphasen auch Kontinuitäten. Sie können die Leser von „Mein Kampf“ über den Bruch hinwegtäuschen. Sicher war Hitler auch schon vorher Antisemit (wer war es damals nicht?) und national gesinnt (im Bürgertum äußerst verbreitet). Schon früh hatte er – darauf ist zur Genüge hingewiesen worden – die „Ostara“-Hefte gelesen, in denen blonde Schönheiten von schwarzen Affenmenschen mißbraucht werden. Den gleichen rassistischen, antisemitischen und deutschtümelnden Anschauungen huldigte die ganze Wagner-Gemeinde, der der junge Hitler sich zugehörig fühlte. Die Oberfläche seiner Weltanschauung hatte sich kaum verändert, als er nach dem Krieg in München in die Politik einstieg. Doch das täuscht. Die Fundamente sind beim nationalen Bürgertum, dem Hitler sich vor 1914 zurechnen konnte (trotz seiner Mittellosigkeit), völlig andere als bei dem nun entstehenden Nationalsozialismus. Das nationale Bürgertum denkt ästhetisch-idealistisch, es basiert auf den Resten des deutschen Idealismus, auf Goethe, Schiller und Fichte, vielleicht auch Schopenhauer. Daran klammerte sich eine Schicht, die die Bedingung ihrer eigenen Existenz nicht reflektieren wollte: den modernen Kapitalismus.
RADIKALER ALS DER MARXISMUS
Nie hätten Hitler und der Nationalsozialismus dem Marxismus auf Augenhöhe begegnen können, wenn ihre Ideologie noch auf bürgerlichen Anschauungen beruht hätte. Die Marxisten haben ihre Theorie von Basis und Überbau. Damit nehmen sie jeder bürgerlichen Ideologie den Wind aus den Segeln. Die Marxisten vertreten einen ökonomisch orientierten Materialismus. Dem tritt Hitler nun mit einem biologisch begründeten Materialismus entgegen, der sich von Darwin und Houston Stewart Chamberlain herleitet. Das bedeutet für die Marxisten zumindest eine echte Herausforderung – setzt doch die Biologie noch radikaler an als die Ökonomie, nämlich bei der evolutionären Herkunft des Menschen, die Marx noch gar nicht bekannt war.

Marx noch nicht bekannt





Diese entscheidende Wende zu einer modernen (oder zumindest pseudo-modernen) Argumentation – zu einem eigenen Materialismus – hat Hitler nicht theoretischen Studien zu verdanken, sondern dem Kriegsereignis. Intuitiv begriff er, daß nach diesen Erfahrungen eine Rückkehr zum Idealismus nicht mehr möglich war. Die nationalen Texte las er jetzt anders – biologistisch. So konnte sich eine moderne Antimoderne bilden: der Nationalsozialismus. Sicher hat die sogenannte „konservative Revolution“ damit eine Verwandtschaft. Die KR ist aber immer noch idealistisch. Sie ruft zu einer inneren Wandlung auf. Die Wandlung kommt aber aus den historischen Tatsachen – entsprechend der marxistischen Lehre.


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