Freitag, 17. Februar 2012

Griechischstunde

Eine Frage, die in der aktuellen Diskussion immer zu kurz gekommen ist: WOZU BRAUCHEN WIR EIGENTLICH DIE GRIECHEN?

Es gab übrigens schon mal eine Zeit, wo ganz Europa glaubte, daß man den Griechen unbedingt helfen müsse. Das war um 1820. Da wollte sich Griechenland von der 300-jährigen türkischen Vorherrschaft befreien. Dabei fiel es den Europäern auf, daß die Griechen noch existierten. Sie waren nicht ausgestorben und hatten Europa die Kultur hinterlassen, sondern sie hatten Europa die Kultur hinterlassen und waren noch immer da. Obwohl man sie inzwischen zur Kultur längst nicht mehr brauchte, weil die alten Griechen alles aufgeschrieben hatten und eine Menge Gelehrte aus aller Welt das sehr gut lesen konnten. Trotzdem trieben sich in Griechenland immer noch Menschen herum und wollten jetzt auch noch Anteil an den Menschenrechten. Eine peinliche Situation für die Europäer, zumal sie zum Osmanischen Reich ganz gute Wirtschaftsbeziehungen hatten.

Eines Tages dürfte das auch unser Schicksal sein. Dann wird man sich fragen, wozu eigentlich die Deutschen da sind. Alles, was wir erdacht und gemacht haben, ist der Überlieferung anvertraut, und im Unterschied zu Platon und Aristoteles wird man uns sogar im Film sehen können. „Die Deutschen!“, wird man so bedeutungsvoll ausrufen, wie man im 19. Jahrhundert ausrief „Die Griechen!“ Und wie mit „den Griechen“ natürlich immer die alten Griechen gemeint sind, so meint man in fünfhundert Jahren mit „den Deutschen“ immer die Originaldeutschen und nicht das Völkchen, das dann zwischen Maas und Memel ein mehr oder weniger angenehmes, aber bedeutungsloses Dasein führt. Und das in einem Idiom spricht, das nur noch von ferne an die Sprache Humboldts, Hölderlins oder Himmlers erinnert.

Wieso Himmler? Weil sein Vater Lehrer für Griechisch und Latein war, „Altphilologe“ nennt man das, und Oberstudiendirektor an einem Gymnasium. Ein gelehrter Mann. Leider hatte er sich mit seinem Sohn schon früh überworfen. Zwar führte Heinrich von Kindheit an ein Tagebuch, das der Vater regelmäßig kontrollierte, und konnte schon deshalb nichts Verbotenes tun, weil er es dann hätte eintragen müssen. Und bis zum Abitur ging der Sohn auch jeden Sonntag mit zum Hochamt. So nennt man eine Messe mit allem Drum und Dran und natürlich in lateinischer Sprache. Denn Oberstudienrat Himmler war nicht nur Gräzist, er war auch katholisch und sah darin keinerlei Widerspruch. Im Gegenteil: Antike und Christentum begründen beiderseits die europäische Bildung. Und beides ist in die Gestalt des humanistischen Gymnasiums eingegangen. Im humanistischen Gymnasium wurde damals die Elite erzogen – und ganz besonders im Wittelsbacher Gymnasium in München, wo Himmler unterrichtete.
Woher wir das alles wissen? Auf die gleiche Schule ist zufällig ein Schriftsteller gegangen, der es im Nachkriegsdeutschland zu einigem Ansehen gebracht hat. Alfred Andersch heißt er, ein Mitglied der Gruppe ´47 und beliebter Lesebuchautor, weil seine Geschichten so lehrreich sind. Über seinen ehemaligen Schuldirektor – im Schülerjargon „Rex“ genannt, das lateinische Wort für „König“ – hat er auch eine Geschichte geschrieben. Die Gelegenheit hat er sich nicht entgehen lassen, eine die bedeutungsvolle Begegnung literarisch auszuwerten. Von dem Vater von Himmler in der Schule unterrichtet zu werden, muß schon ein Erlebnis sein. Leider hat der Schüler es damals nicht gewußt. Er wußte nur, daß der „Rex“ einen Sohn hat, der zu den „Hakenkreuzlern“ gehört, und daß der Vater damit überhaupt nicht einverstanden war.

Es gibt nun zwei Arten, die Erzählung von Alfred Andersch aufzufassen. Entweder liest man sie so, wie der Autor es gewollt hat. Schon im Titel „VATER EINES MÖRDERS“ drückt sich diese Autorenabsicht aus. Er will sagen: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Der Lehrer verhält sich im Klassenzimmer genauso wie sein Sohn sich gegenüber den Volksfeinden verhält. Zwar kann der Lehrer seine Schüler nicht physisch vernichten, aber ihre armen Kinderseelen oder zarten Jugendtriebe werden durch die „schwarze Pädagogik“ grausam hingemordet. Schwarze Uniform, schwarze Pädagogik. Auch haben sich die beiden später wieder versöhnt. Der weltanschauliche Streit betrifft für Andersch nur die Generationenfrage. Der Nationalsozialismus ist neu, das kann der Alte zunächst nicht verkraften. Im Prinzip aber vertritt er das gleiche: DRILL, AUTORITÄT, SADISMUS. Das Unterrichten trägt beim „Rex“ alle Züge einer Folter. Sein Folterinstrument ist die griechische Grammatik. Sie taugt dazu bestens, weil ihre Beherrschung nicht nur Intelligenz, sondern zusätzlich eine Menge Fleiß erfordert. Beides zusammen bringen nicht alle Schüler auf. Weil aber das humanistische Gymnasium die griechische Sprache als „Schlüsselqualifikation“ betrachtet, kann er legitimerweise alle, die nicht über sein Stöckchen zu springen vermögen, als komplette IDIOTEN hinstellen und teilweise sogar von der Schule und damit aus dem Reich der höheren Bildung verweisen.
Vater eines Mörders: Verfilmung BRD 1985


Himmlers Vater ist ein korpulenter Herr mit gepflegter bürgerlicher Kleidung und ohne den Hauch eines militärischen Habitus. Und doch versteht ihn Andersch so zu schildern, daß die zivilisatorischen Hüllen abfallen und das „herrliche Raubtier“ herausschaut. Es gibt solche korpulenten Leute, die gleichzeitig federnd und elastisch auftreten. Der Rex lauert hinter dem Schüler, und dann springt er ihn an. Dabei glitzern die blauen Augen hinter den Brillengläsern genau so, wie man es sich beim Reichsführer vorstellt. Umgekehrt hat Heinrich Himmler durchaus etwas Oberlehrerhaftes. Er ist eigentlich kein Soldatentyp, sondern ein Gelehrtentyp. Dazu paßt auch die Aufgabe des „Ahnenerbes“. Man kann das als Ähnlichkeit verbuchen, aber diese Ähnlichkeiten sind doch oberflächlich, während durch die Familie Himmler und durch das ganze DEUTSCHE BILDUNDSBÜRGERTUM ein tiefer weltanschaulicher Riß geht. Das ist die zweite Lesart.
„Der Humanismus schützt vor gar nichts“, formuliert der Autor das Resultat seiner Beobachtungen. Beobachtungen an der Familie Himmler, die aufs deutsche Bildungsbürgertum zu übertragen sind. Das „humanistische“ Gymnasium soll ein bestimmtes Menschenbild vermitteln. Das Menschenbild, das die alten Griechen entworfen haben. Es zeichnet sich aus durch den hohen Anspruch an den Menschen. Er soll von der Vernunft bestimmt sein und sich entsprechend gerecht und selbstbeherrscht benehmen. Gäbe es nur Menschen, die diesem Ideal entsprechen, so herrschte eine allgemeine Harmonie. Diese Vorstellungen sind in Europa immer leitend geblieben. Wie sehr auch die Realität davon abwich, es hat doch nie ein anderes Leitbild gegeben. Der kriegerische Mensch, wie ihn das „Ahnenerbe“ als indogermanisch (arisch) propagierte, entspricht nicht dem humanistischen Ideal. Auch deshalb versuchten Himmlers Wissenschaftler, den Krieger im asiatischen Raum auszumachen.
Merkwürdig ist, daß sie nicht darauf kamen, in Griechenland selbst danach zu suchen. Wer das getan hat, war Friedrich Nietzsche, selbst ein Professor der klassischen Philologie. Seine Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ behandelt genau diesen Konflikt zwischen humanistischem Griechentum und einem anderen ursprünglicheren und weniger zivilisierten Griechenland, das die Bezeichnung „DIONYSISCH“ erhält. Das Dionysische wird mit der Musik von Richard Wagner assoziiert, Wagner inspirierte Hitler. Es ist wohl keine Frage, daß auch der Nationalsozialismus ein „dionysisches“ Potential enthält, das sich vom humanistischen Bildungsideal diametral. Aus dem neuen Griechentum kommt auch ein neues Deutschtum. Insofern ist der Konflikt zwischen Himmler Vater und Sohn viel spannender: „Der Humanismus schützt vor gar nichts“? Schlimmer: der Humanismus ist BANKROTT wie der griechische Staat.
Noch vor Nietzsche hat Friedrich Hölderlin das Griechentum in Abgrenzung von den Klassikern Goethe und Schiller neu betrachtet. Auch er stößt auf den Gott Dionysos, der für Rausch und Ekstase steht. Bezeichnenderweise formt sich das Christentum aus der Dionysos-Gestalt, die bocksbeinig und mit Hörner dargestellt wurde, seine populäre Vorstellung vom Teufels. Dagegen steht der Kunstgott Apollon. Am 20. April 1937 bekam Hitler von Heinrich Himmler ein Buch geschenkt: „Luzifers Hofgesind“ von Otto Rahn. Ein Buch, das Himmler auch dann noch propagierte, nachdem Rahn sich umgebracht hatte. Damit war Heinrich eindeutig vom Gott der Vaters zum Gegengott DIONYSOS-LUZIFER-HITLER gewechselt.
Gott Dionysos: "den Tiger reiten"

Zu der Zeit, als Himmler senior am Wittelsbacher Gymnasium Griechisch unterrichtete, waren die Klassiker in ihrer humanistischen Auffassung längst überholt. Was er seine Schüler lehrte, war eine Form, aus der der Geist gewichen war. Insofern ist das Unbehagen des Schülers Andersch an diesem Unterricht verständlich. Es stimmt mit dem Unbehagen Heinrich Himmlers an seinem Elternhaus überein. Daher kommen sich der linke Revoluzzer und der junge Nationalsozialist auch in der Erzählung merkwürdig nahe: „weil ihm der junge Himmler, obwohl er ihn nicht kannte, sympathisch war; an einem Sohn, der vor diesem Vater, vor dieser alten, abgespielten und verkratzten Sokrates-Platte stiften gegangen war, mußte ja etwas dran sein.“ - Vor allem dann, wenn er sich ein neues Vorbild sucht, das nicht einmal das Abitur gemacht hat.
Allerdings reicht es nicht, gegen die bürgerliche Bildung aufzugehren. Sonst wird nur Disziplinlosigkeit und Schwäche daraus. Von der Warte des Antiautoritären stimmen allerdings der bürgerliche Vater und der nationalsozialistische Sohn überein: beide haben eine Macht, an die sie glauben. Allerdings ist es eine völlig andere Macht. Statt des idealen Menschen als Leitbild ist es jetzt der wilde Urgrund, aus dem dieser sich erst entwickelt hat. Statt des eigenen idealisierten Spiegelbilds ist es etwas dem Individuum völlig Fremdes und ihm gegenüber GRAUSAMES.
Nach dieser Unterrichtsstunde können wir uns wirklich fragen: Brauchen wir die Griechen? Die Antwort ist ernüchternd: Im Grunde brauchen wir sie nicht mehr und nicht weniger als die Tibeter oder die Samurai. Vor allem brauchen wir jetzt die DEUTSCHEN. Das ist auch den Griechen klar. Aus Ärger darüber verzieren sie jetzt die Bundeskanzlerin mit einem Hakenkreuz. Auch das brauchen sie offensichtlich.





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