Mittwoch, 2. Mai 2012

Schädelvermesser

Das neueste Buch von Richard Dawkins gegen die Kreationisten trägt den Titel „Die Schöpfungslüge“. Es sind aber noch andere Lügen, die dort wieder einmal zum Vorschein kommen.

Wie gewohnt erklärt Dawkins die komplizierten Indizien, die für Darwins Evolutionstheorie sprechen, und widerlegt die rührend naiven Vorstellungen der Bibelgläubigen. In Kapitel 7 begegnet uns eine schöne Ansammlung von Schädelbildern. Sie gehören zu den verschiedenen „Urmenschen“, genauer den Zwischenstufen von Affe und Mensch. "Fehlende Menschen? Sie fehlen nicht mehr“, heißt das Kapitel. Die Kreationisten argumentieren besonders gern mit dem „Missing link“ zwischen Affe und Mensch. Dawkins entwirft einen amüsanten Dialog mit einer Kreationistin namens Wendy, die nicht einsehen will, daß es ein solches „Verbindungsglied“, das weder Affe noch Mensch bzw. beides zugleich ist, per definitionem nicht geben kann. Die Forscher bemühen sich nämlich, jeden Fund entweder der einen oder der anderen Seite zuzuordnen, da Mensch und Affe nun einmal die Spezies sind, von denen wir ausgehen. So schafft die Wissenschaft erst jene Eindeutigkeit, die Wendy für einen Beweis hält, daß es eine kontinuierliche Entwicklung vom Affen zum Menschen nicht gegeben habe.

Besonders interessant ist das Kriterium, wonach die Wissenschaftler ihre Zuordnung vornehmen. Dieses Kriterium ist in erster Linie die Schädelform, und zwar das Verhältnis zwischen Hinterkopf und vorderer Gesichtshälfte.

Neanderthaler
Steinheimer Urmensch
Australopithecus
Homo sapiens


Nun ist das Wort „Schädelform“ politisch derart verrufen, daß man es nur mit einem gewissen Schauern lesen kann. Habe ich mich durch die Lektüre solcher Seiten nicht bereits strafbar gemacht? Wenn wenigstens der evolutionsbiologische Zusammenhang ein völlig anderer wäre als bei den rassistischen „Schädelvermessern“, so daß es sich bloß um ein zufälliges Zusammentreffen handelte, wenn hier von Hinterköpfen und deren Ausprägung die Rede ist. Doch leider funktioniert die Argumentation bei Dawkins und seinen Fachkollegen ganz genauso wie bei Dr. Mengele: Je stärker bei einem aufgefundenen Schädel der Hinterkopf ausgeprägt ist, und das läßt sich messen, desto näher soll die entsprechende Spezies dem Homo sapiens in der Entwicklung stehen. Je niedriger umgekehrt der Hinterkopf und je weiter vorgeschoben der Unterkiefer ist, desto „affenähnlicher“ soll das Lebewesen sein.
Das Kritierum ist nicht etwa ästhetisch zu verstehen. Dawkins würde niemals behaupten, daß der Mensch „schöner“ oder „besser“ sei als der Affe. Fakt ist aber, daß sein Gehirn ein mehr als doppelt so großes Volumen hat. Und eine größere Gehirnmasse benötigt zur Unterbringung einen entsprechend ausgeweiteten Hinterkopf. Damit der Schädel aber insgesamt nicht zu schwer wird (Schädelknochen sind die dicksten Knochen), bildet sich der Unterkiefer in gleichem Maße zurück.
Die geistige Überlegenheit oder Unterlegenheit an der Schädelform abmessen zu wollen, ist demnach nicht abenteuerlich oder absurd, sondern zumindest naheliegend. Trotzdem muß es im Hinblick auf die menschlichen Rassen nicht das richtige Kriterium sein. Es könnten andere kompliziertere Zusammenhänge vorliegen. Das wäre zu untersuchen. Statt dessen wird aber die Schädelmessung rein polemisch als Zeichen kompletter wissenschaftlicher Ahnungslosigkeit hingestellt. Die ideologischen Fragen in der Biologie betreffen mit Sicherheit nicht nur den Kreationismus. Und obwohl Dawkins mit Recht darauf hinweist, wie mächtig die Fundamental-Christen in den USA heute sind, gibt es durchaus noch mächtigere Gruppen, die bis in die Naturwissenschaften hinein ihren Aberglauben verbreiten.
Selbst Richard Dawkins, der nicht zu den ausgesprochenen Gutmenschen gehört, hält es für nötig, einer politisch „mißverständlichen“ Interpretation seiner Ausführungen vorzubeugen. Man darf es nie vergessen: Das Schlimmste, was heute passieren könnte, wäre ein renommierter Biologe mit „rechtsextremen“ Ansichten. Solche Ansichten dürfen nur Nicht-Biologen äußern wie der Extremist Jürgen Rieger oder der Populist Thilo Sarrazin, die schon auf Grund mangelnder Ausbildung wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen sind.
Echte Wissenschaftler müssen sich davon abgrenzen, sonst würden sie ihre Autorität einbüßen. Und nicht zuletzt wegen der Autorität hat der Wissenschaftlicher seine schwierige Ausbildung gemacht. Deshalb kommt in dem fiktiven Dialog auch folgende Stelle vor:
Wendy: „Die Philosophie der Evolution kann zu Ideologien führen, die für die Menschen so zerstörerisch gewesen sind…“
Richard: "Ja, aber wäre es da nicht ein guter Gedanke, nicht nur auf die falsche Deutung des Darwinismus hinzuweisen, der politisch heimtückisch mißbraucht wurde, sondern den Darwinismus zu verstehen? Dann wären sie in der Lage, diesen entsetzlichen Mißverständnissen entgegenzutreten.
Auch Richard Dawkins macht also die Verbeugung vor der Menschenrechtsideologie und läßt sich dabei so weit verdummen, daß er allen Ernstes behauptet, wir sollten uns mit der Evolutionslehre beschäftigen, um dem Rechtsextremismus vorzubeugen: „Genetik gegen rechts“.
Sicher ist es nicht falsch, pseudowissenschaftlichen Rassisten mit korrekten biologischen Argumenten entgegenzutreten. Doch beherrschen ja nicht die pseudowissenschaftlichen Rassisten die öffentliche Meinung, wie es vielleicht zwischen 1933 und 45 in Deutschland einmal der Fall war, sondern es sind die Menschenrechtsideologen, die inzwischen fünfmal so lange und in der ganzen Welt die öffentliche Meinung beherrschen. Und die Kreationisten setzen der Humanitätsduselei noch die Krone auf, indem sie behaupten, die Erde sei für den Menschen da. Das weiß Dawkins ganz genau, sonst würde er nicht unverdrossen den Darwinismus propagieren. Trotzdem macht er etwa in der Mitte seines Buches den obligatorischen Rückzieher. Warum? Nachdem er sogar im Ruhestand ist, kann dem Wissenschaftler niemand mehr etwas anhaben. Doch hat er die „politische Korrektheit“ so weit verinnerlicht, daß sein eigenes Gewissen ihn zu solchen Einlassungen zwingt.
Das Wort „verinnerlichen“ stammt aus der Psychologie, das Wort „Gewissen“ aus der Theologie, aber beides ist von der herrschenden Ideologie keineswegs so unabhängig, wie behauptet wird. Das Gewissen als verinnerlichte herrschende Ideologie läßt sich nur negieren, wenn man innerhalb eines geschlossenen Kreises von Leuten lebt, die die herrschende Ideologie ebenfalls nicht teilen. Das ist bei Dawkins sicher nicht der Fall. Er lebt trotz seiner ketzerischen Art („The Devil’s Chaplain“) inmitten der etablierten Meinungsführer. Und nur da kann er eine Wirkung auf die öffentliche Meinung ausüben. Wer innerhalb jenes Kreises von Andersgläubigen lebt und sich von der herrschenden Zensur völlig frei gemacht hat, der ist automatisch auch in dem berühmten „Ghetto“, aus dem heraus keine nennenswerte Wirkung mehr möglich ist, weil alle Wege nach draußen abgeschnitten sind. Macht man sich diesen Zusammenhang klar, dann scheint es keine Hoffnung zu geben. Es gibt aber Hoffnung, weil es die historische Entwicklung gibt. Wie die Evolution bringt sie Dinge hervor, die sich vorher niemand träumen läßt.
Was aber die übelste Folge der Abgrenzung ist: Heute schwärmen fast nur noch diejenigen von der überlegenen Intelligenz der Weißen, die dafür das allerschlechteste Beispiel sind. Denn die wirklich Intelligenten haben längst begriffen, wie sehr ihnen solche Ansichten schaden. Eine Dummheit der Rassisten besteht zum Beispiel darin, die (wahrscheinliche) Herkunft des Menschen aus Afrika zu leugnen, weil sie nicht gern „vom Neger abstammen“ wollen. Wie bei Dawkins dargetan, sprechen aber alle bisherigen Knochenfunde für Afrika als die „Wiege der Menschheit“. Alle Menschenrassen stammen demnach aus der gleichen Horde, die einst in Afrika sozusagen von den Bäumen herunter kletterte. Einige von ihnen sind dann weitergewandert und haben sich dabei allmählich von der Urform wegentwickelt. Sie sind bei abnehmender Sonneneinstrahlung ausgeblichen und nahmen die gelbe oder weiße Hautfarbe an. Ihre Schädelform veränderte sich und möglicherweise auch ihre Denkungsart. Warum sollte ein weißer Rassist das leugnen? Weil manche eben nicht bis drei zählen können.

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