Donnerstag, 19. April 2012

Deutscher Nationalismus 2012 - eine Antwort


Anfang April erschien auf „Deutschlandecho“ ein längerer Beitrag mit dem Titel „Deutscher Nationalismus 2012 – eine Kritik“. Der Beitrag ist anonym. Er enthält die altbekannte Forderung, die NS-Nostalgie aufzugeben und sich endlich „der Gegenwart zuzuwenden“. Herauskommen soll ein „moderner Nationalismus“. Bemerkenswert ist daran nur, mit welch frischem Optimismus immer wieder diese Vorsätze ertönen, als ob nicht der deutsche Nationalismus seit 1945 überwiegend in dem Bestreben bestanden hätte, sich vom Nationalsozialismus zu lösen oder den Verdacht davon loszuwerden und endlich in der Gegenwart anzukommen. Die aktuellen politischen Themen wechselten in diesen 70 Jahren zwar ständig, aber der deutsche Nationalismus ist niemals irgendwo angekommen. Warum sollte sich dies ausgerechnet im Jahre 2012 ändern?
Es spricht in der Tat etwas für Veränderung. Auch in dem „Nationalismus“-Text findet man einen Neuansatz. Der deutsche Nationalismus ist bisher bestimmt durch zwei Fraktionen. Die einen möchten am liebsten einen neuen Nationalsozialismus einführen, natürlich ohne die Niederlage und auch ohne die Verbrechen, die entweder ganz abgestritten oder bestimmten Einzelpersonen in die Schuhe geschoben werden. Diese Fraktion wird in der Öffentlichkeit als „die Neonazis“ bezeichnet, und das möchten sie wohl auch sein. Besser paßt jedoch der Ausdruck „NS-Nostalgiker“, weil es sich hier um eine naive Verharmlosung und Verherrlichung handelt. Die andere Fraktion könnte man als „Verdrängungskünstler“ bezeichnen. Ihr Bestreben ist das möglichst weitgehende Ignorieren der NS-Zeit. Die Verdrängungskünstler sind davon überzeugt, daß in Deutschland alles bestens stehen würde, wenn es Hitler nie gegeben hätte. Oder wenn man nach 1945 von Hitler nicht mehr geredet hätte. Die gesamte Dekadenz führen sie darauf zurück, daß durch die Nationalsozialisten die alten nationalen Werte in Mißkredit geraten seien. Die Tatsache, daß es in anderen Ländern auch nicht besser aussieht als in Deutschland, obwohl diese Länder gänzlich unbelastet vom Nationalsozialismus sind, blenden die Verdrängungskünstler gerne aus. Es ist eine bequeme Feigheit, die 12 Jahre als winzigen, unbedeutenden und zufälligen Teil der glorreichen deutschen Geschichte zu betrachten und möglichst schnell zu vergessen. Am meisten ärgern sich die Verdrängungskünstler über die NS-Nostalgiker. Letztlich meinen sie, daß nur die kontraproduktive Tätigkeit der Nostalgiker daran schuld sei, daß in Deutschland nicht längst eine nationale Regierung das Sagen hat.
Aus dieser Zweiteilung ist der Autor von „Nationalismus 2012“ immerhin ausgebrochen. Er wendet sich gegen die Nostalgiker, tritt aber nicht auf die Seite der Verdränger. Die Bedeutung des Nationalsozialismus wird nicht geleugnet, sondern eine „kritische Auseinandersetzung“ damit eingefordert. Wörtlich heißt es: „Es muß zusätzlich eine vorbehaltlose, objektive und sachliche Kritik am Nationalsozialismus möglich sein, die weder von Einfaltspinseln auf der einen noch auf der anderen Seite gestört wird.
Eine ähnliche Formulierung findet sich in einer aktuellen Broschüre mit dem Titel „Wegweiser für eine Revolution von rechts“. Dort heißt es: „Die Geschichte des Nationalsozialismus gleicht einem unvollendeten Roman. (…) Ob wir es wollen oder nicht, die Fertigstellung dieses Werkes ist der Schlüssel zur Selbstfindung unseres Geschlechts.“ Die Verfasser sind wiederum anonym. Auf die Frage, was mit „Geschlecht“ gemeint ist, erklären sie, daß sich der Ausdruck auf Menschen bezieht, die die neue Sichtweise teilen. Also nicht nur auf Deutsche. Wahrscheinlich sind solche Äußerungen kein Zufall. Nach dem Tod der letzten großen Zeitzeugen und durch die veränderte Weltlage bereitet sich eine neue Phase in der Deutung des NS vor. Ernst Nolte spielt darin die Rolle eines Vorläufers. Doch Nolte ist ein Liberaler geblieben. Was jetzt ansteht, ist die Betrachtung der NS-Zeit unter dem Vorzeichen des Scheiterns von Marxismus und Liberalismus, den beiden ehemaligen Gegnern.
Nach 1945 haben die Nationalen in Deutschland den Nationalsozialismus, soweit er in ihre Köpfe Eingang gefunden hatte, ganz schnell und gründlich daraus entfernt. Der NS erschien im Rückblick wie eine flüchtige Sternschnuppe. Die Deutschen, die seit den 20er Jahren zum NS stießen, hatten in der Mehrzahl auch vorher schon national gedacht. Sie waren entweder deutschnationale Bürgerliche oder nationalrevolutionäre Jugendbewegte oder national eingestellte Sozialdemokraten und von ihren Erlebnissen geprägte Kriegsteilnehmer. Dieses ideologische Umfeld kennen wir recht gut, weil es mehr oder weniger das gleiche ist, was seit 1945 wieder die deutsche Rechte ausmacht. Nachdem der Nationalsozialismus militärisch gescheitert war und die nationalsozialistische Ideologie von den Besatzungsmächten strengstens verboten wurde, taten die ehemaligen Nazis das, was der Mensch immer tut, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird: sie „regredierten“. Regression ist ein Begriff aus der Psychologie und bedeutet die Rückkehr zu infantilen und primitiven Verhaltensweisen. Wo diese aufgeschreckten Nazis ideologisch herkamen, dorthin ruderten sie schleunigst zurück. Und den meisten fiel es auch gar nicht so schwer, weil die diversen nationalen Denkweisen tief in der deutschen und europäischen Kultur verwurzelt sind und gut eingeübt durch das ganze 19. Jahrhundert reichten, auch sind sie kompatibel zum Christentum und zur philosophischen Tradition. Das alles weiß der Durchschnitt zwar nicht, aber es wirkt beruhigend auf ihn ein. Es stabilisiert seine eigene Position.
Die „nationalsozialistische Weltanschauung“ hingegen ist in wenigen Jahren aus dem Boden gestampft worden. Sie wendet sich gegen das christliche Abendland und vertritt eine Umwertung der Werte. Dieses neue Denken wurde wiederum innerhalb kürzester Zeit in das Volk hineingepumpt. Nur wenige haben diese Weltanschauung innerlich angenommen. Wirkliche Nationalsozialisten gab es sehr wenige. Bei den meisten war es ein äußerlicher Lack von Phrasen, unter dem die alten Anschauungen beibehalten waren. Obwohl nach außen hin der Eindruck entstand, als sei das Volk mit seinem Führer einig, wußten die NS-Führer doch und äußerten es auch gelentlich, daß die eigentliche Erziehungsarbeit erst nach dem Krieg kommen sollte. Die Propaganda mußte die Leute belügen und betrügen, um eine positive Stimmung zu erzeugen. Die entscheidenden Projekte (Judenvernichtung, Euthanasie, Kriegsvorbereitung) wurden den Leuten erst gar nicht mitgeteilt. Man hielt sie nicht für reif dazu. Und in der Tat hatten sich die Deutschen über eine Idylle gefreut, die so gar nicht bestand.
Deshalb fiel es den nationalen Deutschen nicht schwer, nach 1945 zu ihrer nationalkonservativen Denkweise zurückzukehren. Sie merkten vielfach nicht einmal, daß sie nun etwas ganz anderes vertraten, sondern glaubten, sich infolge der Ereignisse bloß gemäßigt zu haben. Der Nationalsozialismus ist aber kein extremer Nationalismus und auch kein nationaler Sozialismus. Die Vokabel „Nationalsozialismus“ muß vorwiegend als Propagandaformel gesehen werden. In Wahrheit handelte es sich um etwas, das über den Nationalismus hinausgeht, aber nicht den Sozialismus ansteuert – um eine plötzliche Abweichung vom vorgeschriebenen historischen Kurs. Ein Bruch mit der Geschichte, wie es die Gegner bis heute beklagen. Im Unterschied dazu stammen die nationalen, nationalistischen, deutschnationalen und völkischen Strömungen allesamt aus dem 19. oder sogar schon aus dem 18. Jahrhundert. Die spezielle Situation, in der der Nationalsozialismus entstand, ist aber durch das Ende des 1. Weltkrieges und noch mehr durch die Oktoberrevolution von 1917 gekennzeichnet. Darauf hat Ernst Nolte immer wieder hingewiesen.
Der NS ist in erster Linie eine Reaktion auf den „Bolschewismus“, und der Bolschewismus ist die Konsequenz aus der europäischen Fortschrittsbewegung (auch „Moderne“ genannt). Damit ist der NS die Reaktion auf das Scheitern der Moderne. Der NS befindet sich auf der gleichen historischen Ebene wie die moderne Welt. Vor allem handelt es sich beim NS genauso wie beim Liberalismus oder Marxismus um eine Weltanschauung, das heißt, es geht um das Schicksal der gesamten Welt und um den Menschen als Spezies. Die Deutschen stehen nicht deshalb im Zentrum dieser Weltanschauung, weil ihre Schöpfer Deutsche sind, sondern weil die Deutschen eine welthistorische Mission haben. Diese „globale“ Mission steht in genauer Entsprechung zur „Weltherrschaft des Judentums“. Die Interessen aller anderen Nationen und Völker hängen von dieser großen Auseinandersetzung ab. Entsprechend haben sich die Nationalsozialisten über die Interessen kleiner Völker rücksichtslos hinweggesetzt. Sie sind davon ausgegangen, daß es um ein Gesamtkonzept gegen die bolschewistische Weltrevolution (inzwischen kapitalistische Weltgesellschaft) geht. Erst innerhalb dieses Gesamtkonzepts sind dann die nationalen Fragen zu lösen. Weltherrschaft, Weltordnung, Weltrevolution und Weltanschauung sind die Kategorien, in denen der NS und speziell die Rassenideologie zu sehen sind.
Mit diesem Programm haben die Nationalsozialisten in blitzartiger Geschwindigkeit die vielen nationalen und nationalistischen Gruppen in Deutschland an die reale weltpolitische Lage des 20. Jahrhunderts herangeführt und aus ihren traditionalistischen Krähwinkeln herausgerissen. Und diese Modernität hat die Nationalsozialisten gegenüber allen anderen rechten Gruppen ausgezeichnet. Nur auf diese Weise konnte es gelingen konnte, auch ehemalige Kommunisten zu gewinnen. Und aus demselben Grund hatte die NSDAP – ganz im Gegensatz zu den nationalen Parteien von heute – großen Zulauf bei den Intellektuellen, weil die nämlich wissen, was die Stunde geschlagen hat – auch wenn sie im Handeln völlig ohnmächtig sind.
Bis heute ist dieser „moderne Antimodernismus“ das gefürchtete Kennzeichen nationalsozialistischen Ideologie. Und das gilt auch für das 21. Jahrhundert, weil der Weltlauf, trotz des Ausscheidens der Marxisten, immer noch von den modernen Grundsätzen geleitet wird. Der oberste moderne Grundsatz ist der Humanismus („Menschenrechtsideologie“). Genau dagegen tritt die Rassenideologie und speziell der Antisemitismus an. Nicht aber der Nationalismus, weil der Nationalismus gar nicht auf der Ebene der Menschheit zu argumentierten vermag. Der Nationalismus tut immer noch so, als ob sich ein Land unabhängig von der übrigen Welt regieren ließe. Das ist eine vormoderne Auffassung. Sie galt schon im 19. Jahrhundert nur noch bedingt und ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg veraltet.
Ursprünglich ist der Nationalismus selbst ein Teil der modernen Entwicklung gewesen. Nationale Vorstellungen richten sich im 18. Jahrhundert nicht gegen Fremdeinflüsse, sondern gegen die eigenen Oberschichten, Adel und Klerus, und fordern gleiche Rechte für alle Bürger. Höhepunkt dieser national-demokratischen Bewegung ist das revolutionäre Frankreich, das die rot-weiß-blaue Kokarde aufsteckt und die Marsellaise anstimmt („Allons enfants de la patrie …“). Auch in der 48er Revolution fungierte das Nationalgefühl noch als Fortschrittsmotor. Der Nationalismus ist eine historische Vorstufe des Liberalismus und Egalitarismus und kann daher niemals gegen Liberalismus und Egalitarismus ins Feld geführt werden. So dumm und „politikunfähig“ die heutigen Neonazis auch sein mögen, allein wegen ihrer Affinität zum NS sind sie allemal moderner und daher auch gefährlicher als der ganze übrige Teil des nationalen Lagers. Tatsächlich wird das nationale Lager überhaupt nur wegen seiner angeblichen Nähe zu den Neonazis in der Öffentlichkeit überhaupt noch zur Kenntnis genommen wird.
Als der Nationalismus sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den Internationalismus zu kehren begann, geriet er automatisch in konservatives und reaktionäres Fahrwasser. 1918 ist es mit dieser Herrlichkeit vorbei. Auch wenn Stauffenberg und sein Kreis von einer Restauration träumten – Hitler hätte zehnmal tot sein können, und doch wären die alten Zeiten nicht wiedergekommen. Es gab nur die „Flucht nach vorn“ durch eine aggressive Politik, wie die Sowjetunion und die Westmächte sie im Dienste ihrer Ideen ebenfalls betrieben. Andernfalls hätte man sich an eine der anderen beiden Weltanschauungen anschließen müssen. Hitler nannte das „Kapitulation“.
Entsprechend schlossen sich die meisten Deutschen nach dem Krieg entweder den Marxisten oder den Liberalen an. Einige jedoch weigerten sich – zumindest innerlich. Sie wollten weiter „deutsch bleiben“ und mißverstanden dieses Deutschtum, das als Weltanschauung noch heimliche Chancen hatte, als nationales Bekenntnis. Damit waren sie mental in die Zeit vor 1918 zurückgewichen. Der Stauffenberg-Kult in diesen Kreisen ist kein Zufall. Man tat quasi so, als ob der Nationalsozialismus überflüssig gewesen sei. In Wirklichkeit war es aber der Durchbruch zur „modernen Antimoderne“.
Damit wären wir wieder am Anfang. Aus den verschreckten Deutschen von 1945 ist die „deutsche Rechte“ und der „deutsche Nationalismus 2012“ entstanden. Zu kritisieren sind daran nicht Äußerlichkeiten oder persönliche Unzulänglichkeiten, sondern die Weltanschauung selber ist falsch bzw. gar nicht vorhanden. Wenn in bezug auf die Bundesrepublik gesagt wird: „Das System hat keine Fehler, das System ist der Fehler“, so gilt mindestens ebenso: „Der deutsche Nationalismus hat keine Fehler, der deutsche Nationalismus ist der Fehler.“
Was ist nun aber mit den „Neonazis“? Auch sie hat es seit 1945 gegeben, sie haben sich nie um das Verbotene ihres Tuns gekümmert, ja dieses noch als Anreiz genommen. Und trotzdem folgten diese Kräfte dem gleichen Reflex des blitzartigen Rückzugs nach der Niederlage. Im Grunde unterscheidet sich das politische Denken der Neonazis nicht sehr von den Nationalen. Beide verbleiben in den Kategorien des 19. Jahrhunderts und lehnen die Globalisierung verständnislos und ohnmächtig ab. Beide haben sich auf eine reaktionäre, aber letztlich harmlose Position zurückgezogen, was Deutschland betrifft. Der Unterschied besteht darin, daß der Neonazi sein politisches Gartenzwerg-Idyll mit den Nationalsozialisten verbindet. Nur im kleinen Kreis darf man sich manchmal über die Brutalitäten der angeblichen Biedermänner freuen. Das gibt immerhin Hoffnung, daß manche es besser wissen.
Ein „Neonazismus“ ist genau genommen gar nicht möglich, weil man dann das gesamte Geschehen mitsamt der Niederlage wiederholen müßte. Man darf aber auch nicht wegen dieser Niederlage hinter die Frontlinie zurückweichen. Richtig wäre ein „post-nationalsozialistischer“ Standpunkt, der die damaligen Ereignisse voll verarbeitet hat. Dabei muß man sich nicht nur den Grausamkeiten stellen, sondern vor allem den entsprechenden Denkweisen. Der NS birgt eine völlig neue antihumanistische Denkweise, die bisher weder innerhalb noch außerhalb der Rechten ernsthaft diskutiert wurde. Und doch werden die Inhalte dieses Antihumanismus immer aktueller.
Es geht nicht darum, wie es in dem erwähnten Beitrag heißt, „neue Themenfelder“ zu öffnen, sondern einen neuen Denkstil und Gefühlshaushalt zu entwickeln. Weg vor allem mit der Sentimentalität – auch wenn sie deutsche Traditionen betrifft. Wir brauchen auch keine Nazi-Propaganda zu machen, denn die hat das Publikum inzwischen durchschaut.

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