Anfang April erschien auf
„Deutschlandecho“ ein längerer Beitrag mit dem Titel „Deutscher Nationalismus
2012 – eine Kritik“. Der Beitrag ist anonym. Er enthält die altbekannte
Forderung, die NS-Nostalgie aufzugeben und sich endlich „der Gegenwart
zuzuwenden“. Herauskommen soll ein „moderner Nationalismus“. Bemerkenswert ist
daran nur, mit welch frischem Optimismus immer wieder diese Vorsätze ertönen,
als ob nicht der deutsche Nationalismus seit 1945 überwiegend in dem Bestreben
bestanden hätte, sich vom Nationalsozialismus zu lösen oder den Verdacht davon
loszuwerden und endlich in der Gegenwart anzukommen. Die aktuellen politischen
Themen wechselten in diesen 70 Jahren zwar ständig, aber der deutsche Nationalismus
ist niemals irgendwo angekommen. Warum sollte sich dies ausgerechnet im Jahre
2012 ändern?
Es spricht in der Tat etwas für
Veränderung. Auch in dem „Nationalismus“-Text findet man einen Neuansatz. Der
deutsche Nationalismus ist bisher bestimmt durch zwei Fraktionen. Die einen
möchten am liebsten einen neuen Nationalsozialismus einführen, natürlich ohne
die Niederlage und auch ohne die Verbrechen, die entweder ganz abgestritten
oder bestimmten Einzelpersonen in die Schuhe geschoben werden. Diese Fraktion
wird in der Öffentlichkeit als „die Neonazis“ bezeichnet, und das möchten sie
wohl auch sein. Besser paßt jedoch der Ausdruck „NS-Nostalgiker“, weil es sich
hier um eine naive Verharmlosung und Verherrlichung handelt. Die andere
Fraktion könnte man als „Verdrängungskünstler“ bezeichnen. Ihr Bestreben ist
das möglichst weitgehende Ignorieren der NS-Zeit. Die Verdrängungskünstler sind
davon überzeugt, daß in Deutschland alles bestens stehen würde, wenn es Hitler
nie gegeben hätte. Oder wenn man nach 1945 von Hitler nicht mehr geredet hätte.
Die gesamte Dekadenz führen sie darauf zurück, daß durch die
Nationalsozialisten die alten nationalen Werte in Mißkredit geraten seien. Die
Tatsache, daß es in anderen Ländern auch nicht besser aussieht als in Deutschland,
obwohl diese Länder gänzlich unbelastet vom Nationalsozialismus sind, blenden
die Verdrängungskünstler gerne aus. Es ist eine bequeme Feigheit, die 12 Jahre als
winzigen, unbedeutenden und zufälligen Teil der glorreichen deutschen
Geschichte zu betrachten und möglichst schnell zu vergessen. Am meisten ärgern
sich die Verdrängungskünstler über die NS-Nostalgiker. Letztlich meinen sie,
daß nur die kontraproduktive Tätigkeit der Nostalgiker daran schuld sei, daß in
Deutschland nicht längst eine nationale Regierung das Sagen hat.
Aus dieser Zweiteilung ist der
Autor von „Nationalismus 2012“ immerhin ausgebrochen. Er wendet sich gegen die
Nostalgiker, tritt aber nicht auf die Seite der Verdränger. Die Bedeutung des
Nationalsozialismus wird nicht geleugnet, sondern eine „kritische
Auseinandersetzung“ damit eingefordert. Wörtlich heißt es: „Es muß zusätzlich eine vorbehaltlose,
objektive und sachliche Kritik am Nationalsozialismus möglich sein, die weder
von Einfaltspinseln auf der einen noch auf der anderen Seite gestört wird.“
Eine ähnliche Formulierung findet
sich in einer aktuellen Broschüre mit dem Titel „Wegweiser für eine Revolution
von rechts“. Dort heißt es: „Die
Geschichte des Nationalsozialismus gleicht einem unvollendeten Roman. (…) Ob
wir es wollen oder nicht, die Fertigstellung dieses Werkes ist der Schlüssel
zur Selbstfindung unseres Geschlechts.“ Die Verfasser sind wiederum anonym.
Auf die Frage, was mit „Geschlecht“ gemeint ist, erklären sie, daß sich der Ausdruck
auf Menschen bezieht, die die neue Sichtweise teilen. Also nicht nur auf Deutsche.
Wahrscheinlich sind solche Äußerungen kein Zufall. Nach dem Tod der letzten
großen Zeitzeugen und durch die veränderte Weltlage bereitet sich eine neue
Phase in der Deutung des NS vor. Ernst Nolte spielt darin die Rolle eines
Vorläufers. Doch Nolte ist ein Liberaler geblieben. Was jetzt ansteht, ist die
Betrachtung der NS-Zeit unter dem Vorzeichen des Scheiterns von Marxismus und
Liberalismus, den beiden ehemaligen Gegnern.
Nach 1945 haben die Nationalen in
Deutschland den Nationalsozialismus, soweit er in ihre Köpfe Eingang gefunden
hatte, ganz schnell und gründlich daraus entfernt. Der NS erschien im Rückblick
wie eine flüchtige Sternschnuppe. Die Deutschen, die seit den 20er Jahren zum
NS stießen, hatten in der Mehrzahl auch vorher schon national gedacht. Sie
waren entweder deutschnationale Bürgerliche oder nationalrevolutionäre
Jugendbewegte oder national eingestellte Sozialdemokraten und von ihren
Erlebnissen geprägte Kriegsteilnehmer. Dieses ideologische Umfeld kennen wir
recht gut, weil es mehr oder weniger das gleiche ist, was seit 1945 wieder die
deutsche Rechte ausmacht. Nachdem der Nationalsozialismus militärisch
gescheitert war und die nationalsozialistische Ideologie von den
Besatzungsmächten strengstens verboten wurde, taten die ehemaligen Nazis das,
was der Mensch immer tut, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird: sie
„regredierten“. Regression ist ein Begriff aus der Psychologie und bedeutet die
Rückkehr zu infantilen und primitiven Verhaltensweisen. Wo diese
aufgeschreckten Nazis ideologisch herkamen, dorthin ruderten sie schleunigst
zurück. Und den meisten fiel es auch gar nicht so schwer, weil die diversen
nationalen Denkweisen tief in der deutschen und europäischen Kultur verwurzelt
sind und gut eingeübt durch das ganze 19. Jahrhundert reichten, auch sind sie kompatibel
zum Christentum und zur philosophischen Tradition. Das alles weiß der Durchschnitt
zwar nicht, aber es wirkt beruhigend auf ihn ein. Es stabilisiert seine eigene
Position.
Die „nationalsozialistische
Weltanschauung“ hingegen ist in wenigen Jahren aus dem Boden gestampft worden. Sie
wendet sich gegen das christliche Abendland und vertritt eine Umwertung der
Werte. Dieses neue Denken wurde wiederum innerhalb kürzester Zeit in das Volk
hineingepumpt. Nur wenige haben diese Weltanschauung innerlich angenommen. Wirkliche
Nationalsozialisten gab es sehr wenige. Bei den meisten war es ein äußerlicher
Lack von Phrasen, unter dem die alten Anschauungen beibehalten waren. Obwohl
nach außen hin der Eindruck entstand, als sei das Volk mit seinem Führer einig,
wußten die NS-Führer doch und äußerten es auch gelentlich, daß die eigentliche
Erziehungsarbeit erst nach dem Krieg kommen sollte. Die Propaganda mußte die
Leute belügen und betrügen, um eine positive Stimmung zu erzeugen. Die
entscheidenden Projekte (Judenvernichtung, Euthanasie, Kriegsvorbereitung)
wurden den Leuten erst gar nicht mitgeteilt. Man hielt sie nicht für reif dazu.
Und in der Tat hatten sich die Deutschen über eine Idylle gefreut, die so gar
nicht bestand.
Deshalb fiel es den nationalen
Deutschen nicht schwer, nach 1945 zu ihrer nationalkonservativen Denkweise
zurückzukehren. Sie merkten vielfach nicht einmal, daß sie nun etwas ganz
anderes vertraten, sondern glaubten, sich infolge der Ereignisse bloß gemäßigt
zu haben. Der Nationalsozialismus ist aber kein extremer Nationalismus und auch
kein nationaler Sozialismus. Die Vokabel „Nationalsozialismus“ muß vorwiegend
als Propagandaformel gesehen werden. In Wahrheit handelte es sich um etwas, das
über den Nationalismus hinausgeht, aber nicht den Sozialismus ansteuert – um
eine plötzliche Abweichung vom vorgeschriebenen historischen Kurs. Ein Bruch
mit der Geschichte, wie es die Gegner bis heute beklagen. Im Unterschied dazu
stammen die nationalen, nationalistischen, deutschnationalen und völkischen
Strömungen allesamt aus dem 19. oder sogar schon aus dem 18. Jahrhundert. Die
spezielle Situation, in der der Nationalsozialismus entstand, ist aber durch
das Ende des 1. Weltkrieges und noch mehr durch die Oktoberrevolution von 1917
gekennzeichnet. Darauf hat Ernst Nolte immer wieder hingewiesen.
Der NS ist in erster Linie eine
Reaktion auf den „Bolschewismus“, und der Bolschewismus ist die Konsequenz aus
der europäischen Fortschrittsbewegung (auch „Moderne“ genannt). Damit ist der
NS die Reaktion auf das Scheitern der Moderne. Der NS befindet sich auf der
gleichen historischen Ebene wie die moderne Welt. Vor allem handelt es sich beim
NS genauso wie beim Liberalismus oder Marxismus um eine Weltanschauung, das
heißt, es geht um das Schicksal der gesamten Welt und um den Menschen als
Spezies. Die Deutschen stehen nicht deshalb im Zentrum dieser Weltanschauung,
weil ihre Schöpfer Deutsche sind, sondern weil die Deutschen eine welthistorische
Mission haben. Diese „globale“ Mission steht in genauer Entsprechung zur
„Weltherrschaft des Judentums“. Die Interessen aller anderen Nationen und
Völker hängen von dieser großen Auseinandersetzung ab. Entsprechend haben sich
die Nationalsozialisten über die Interessen kleiner Völker rücksichtslos
hinweggesetzt. Sie sind davon ausgegangen, daß es um ein Gesamtkonzept gegen die
bolschewistische Weltrevolution (inzwischen kapitalistische Weltgesellschaft)
geht. Erst innerhalb dieses Gesamtkonzepts sind dann die nationalen Fragen zu
lösen. Weltherrschaft, Weltordnung, Weltrevolution und Weltanschauung sind die
Kategorien, in denen der NS und speziell die Rassenideologie zu sehen sind.
Mit diesem Programm haben die
Nationalsozialisten in blitzartiger Geschwindigkeit die vielen nationalen und
nationalistischen Gruppen in Deutschland an die reale weltpolitische Lage des
20. Jahrhunderts herangeführt und aus ihren traditionalistischen Krähwinkeln herausgerissen.
Und diese Modernität hat die Nationalsozialisten gegenüber allen anderen
rechten Gruppen ausgezeichnet. Nur auf diese Weise konnte es gelingen konnte,
auch ehemalige Kommunisten zu gewinnen. Und aus demselben Grund hatte die NSDAP
– ganz im Gegensatz zu den nationalen Parteien von heute – großen Zulauf bei
den Intellektuellen, weil die nämlich wissen, was die Stunde geschlagen hat –
auch wenn sie im Handeln völlig ohnmächtig sind.
Bis heute ist dieser „moderne Antimodernismus“
das gefürchtete Kennzeichen nationalsozialistischen Ideologie. Und das gilt
auch für das 21. Jahrhundert, weil der Weltlauf, trotz des Ausscheidens der
Marxisten, immer noch von den modernen Grundsätzen geleitet wird. Der oberste
moderne Grundsatz ist der Humanismus („Menschenrechtsideologie“). Genau dagegen
tritt die Rassenideologie und speziell der Antisemitismus an. Nicht aber der
Nationalismus, weil der Nationalismus gar nicht auf der Ebene der Menschheit zu
argumentierten vermag. Der Nationalismus tut immer noch so, als ob sich ein
Land unabhängig von der übrigen Welt regieren ließe. Das ist eine vormoderne
Auffassung. Sie galt schon im 19. Jahrhundert nur noch bedingt und ist spätestens
seit dem 1. Weltkrieg veraltet.
Ursprünglich ist der Nationalismus
selbst ein Teil der modernen Entwicklung gewesen. Nationale Vorstellungen
richten sich im 18. Jahrhundert nicht gegen Fremdeinflüsse, sondern gegen die
eigenen Oberschichten, Adel und Klerus, und fordern gleiche Rechte für alle
Bürger. Höhepunkt dieser national-demokratischen Bewegung ist das revolutionäre
Frankreich, das die rot-weiß-blaue Kokarde aufsteckt und die Marsellaise
anstimmt („Allons enfants de la patrie …“). Auch in der 48er Revolution
fungierte das Nationalgefühl noch als Fortschrittsmotor. Der Nationalismus ist eine
historische Vorstufe des Liberalismus und Egalitarismus und kann daher niemals gegen
Liberalismus und Egalitarismus ins Feld geführt werden. So dumm und
„politikunfähig“ die heutigen Neonazis auch sein mögen, allein wegen ihrer
Affinität zum NS sind sie allemal moderner und daher auch gefährlicher als der
ganze übrige Teil des nationalen Lagers. Tatsächlich wird das nationale Lager überhaupt
nur wegen seiner angeblichen Nähe zu den Neonazis in der Öffentlichkeit
überhaupt noch zur Kenntnis genommen wird.
Als der Nationalismus sich in der
2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den Internationalismus zu kehren begann,
geriet er automatisch in konservatives und reaktionäres Fahrwasser. 1918 ist es
mit dieser Herrlichkeit vorbei. Auch wenn Stauffenberg und sein Kreis von einer
Restauration träumten – Hitler hätte zehnmal tot sein können, und doch wären
die alten Zeiten nicht wiedergekommen. Es gab nur die „Flucht nach vorn“ durch
eine aggressive Politik, wie die Sowjetunion und die Westmächte sie im Dienste
ihrer Ideen ebenfalls betrieben. Andernfalls hätte man sich an eine der anderen
beiden Weltanschauungen anschließen müssen. Hitler nannte das „Kapitulation“.
Entsprechend schlossen sich die
meisten Deutschen nach dem Krieg entweder den Marxisten oder den Liberalen an. Einige
jedoch weigerten sich – zumindest innerlich. Sie wollten weiter „deutsch
bleiben“ und mißverstanden dieses Deutschtum, das als Weltanschauung noch
heimliche Chancen hatte, als nationales Bekenntnis. Damit waren sie mental in
die Zeit vor 1918 zurückgewichen. Der Stauffenberg-Kult in diesen Kreisen ist
kein Zufall. Man tat quasi so, als ob der Nationalsozialismus überflüssig
gewesen sei. In Wirklichkeit war es aber der Durchbruch zur „modernen
Antimoderne“.
Damit wären wir wieder am Anfang.
Aus den verschreckten Deutschen von 1945 ist die „deutsche Rechte“ und der
„deutsche Nationalismus 2012“ entstanden. Zu kritisieren sind daran nicht
Äußerlichkeiten oder persönliche Unzulänglichkeiten, sondern die Weltanschauung
selber ist falsch bzw. gar nicht vorhanden. Wenn in bezug auf die
Bundesrepublik gesagt wird: „Das System hat keine Fehler, das System ist der
Fehler“, so gilt mindestens ebenso: „Der deutsche Nationalismus hat keine
Fehler, der deutsche Nationalismus ist der Fehler.“
Was ist nun aber mit den „Neonazis“?
Auch sie hat es seit 1945 gegeben, sie haben sich nie um das Verbotene ihres
Tuns gekümmert, ja dieses noch als Anreiz genommen. Und trotzdem folgten diese
Kräfte dem gleichen Reflex des blitzartigen Rückzugs nach der Niederlage. Im
Grunde unterscheidet sich das politische Denken der Neonazis nicht sehr von den
Nationalen. Beide verbleiben in den Kategorien des 19. Jahrhunderts und lehnen
die Globalisierung verständnislos und ohnmächtig ab. Beide haben sich auf eine
reaktionäre, aber letztlich harmlose Position zurückgezogen, was Deutschland
betrifft. Der Unterschied besteht darin, daß der Neonazi sein politisches
Gartenzwerg-Idyll mit den Nationalsozialisten verbindet. Nur im kleinen Kreis
darf man sich manchmal über die Brutalitäten der angeblichen Biedermänner
freuen. Das gibt immerhin Hoffnung, daß manche es besser wissen.
Ein „Neonazismus“ ist genau
genommen gar nicht möglich, weil man dann das gesamte Geschehen mitsamt der
Niederlage wiederholen müßte. Man darf aber auch nicht wegen dieser Niederlage hinter
die Frontlinie zurückweichen. Richtig wäre ein „post-nationalsozialistischer“
Standpunkt, der die damaligen Ereignisse voll verarbeitet hat. Dabei muß man sich
nicht nur den Grausamkeiten stellen, sondern vor allem den entsprechenden
Denkweisen. Der NS birgt eine völlig neue antihumanistische Denkweise, die bisher
weder innerhalb noch außerhalb der Rechten ernsthaft diskutiert wurde. Und doch
werden die Inhalte dieses Antihumanismus immer aktueller.
Es geht nicht darum, wie es in dem
erwähnten Beitrag heißt, „neue Themenfelder“ zu öffnen, sondern einen neuen
Denkstil und Gefühlshaushalt zu entwickeln. Weg vor allem mit der
Sentimentalität – auch wenn sie deutsche Traditionen betrifft. Wir brauchen
auch keine Nazi-Propaganda zu machen, denn die hat das Publikum inzwischen
durchschaut.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen