Montag, 23. Januar 2012

Engel

Max Ernst, Hausengel (1937)












Das Kennzeichen („Logo“) dieses Blogs ist der „Hausengel“ von Max Ernst. Liest man kunsthistorische Erläuterungen dazu, so wird die Figur passend zum Entstehungsdatum als Symbol des „Faschismus in Europa“ gedeutet. Die Gestalt ist häßlich und erschreckend, doch die Farben ihres flatternden Gewandes erinnern an Renaissance-Engel. So sagen die Kunsthistoriker.

Entscheidend für uns ist, daß der Künstler den Nationalsozialismus in einen religiösen Zusammenhang stellt. Es gibt noch ein zweites eindrucksvolles Gemälde mit dem Motiv Religion und Nationalsozialismus, Gottfried Helnweins „Epiphanie 1“. Aus urheberrechtlichen Gründen können wir das Bild hier nicht zeigen, es ist nämlich erst wenige Jahre alt, also lange nach 1945 entstanden. Jeder kann es im Netz leicht finden. Es zeigt eine Madonna mit dem Kind in klassischer Malweise und in Betrachtung des Kindes einige Männer in SS- und Wehrmachtsuniformen. Alles weitere bleibt der Interpretation überlassen.

Nicht nur Heinrich Himmler, sondern auch Joseph Goebbels haben ausdrücklich eine religiöse Auffassung des NS befürwortet bzw. für die Zukunft erwartet. Adolf Hitler stellte sich bekanntlich gegen derartige Versuche und lehnte eine Rolle als Religionsstifter oder gar Ersatz-Gott vehement ab. Wie die vielen eher lächerlichen Sekten bezeugen, läßt sich eine Religion nicht gründen wie ein Verein oder eine politische Partei. Schon gar nicht lassen sich Formen und Riten traditioneller Religionen zu einer neuen Mischung verarbeiten und auf ein politisches Programm pfropfen. So ähnlich hätte wohl eine „NS-Religion“ nach den Vorstellungen von Himmler (eher heidnisch) oder Goebbels (eher katholisch) ausgesehen. Hitler spürte stärker den Anachronismus (die Überlebtheit) aller traditionellen Religionen und jeder metaphysischen (übersinnlichen) Orientierung überhaupt. Sein (relativer) Liberalismus gegenüber den christlichen Kirchen kam aus der (inzwischen bestätigen) Auffassung, daß „dieser Hokuspokus“ früher oder später von selbst verschwinden würde angesichts einer mehr und mehr naturwissenschaftlich (für Hitler: biologisch) geprägten Welt.

Trotzdem hat der NS eine Religion hervorgebracht: die „Holocaust-Religion“. Die Holocaust-Religion unterscheidet sich von der (von Himmler, Goebbels u.a. gewünschten) NS-Religion zunächst in der negativen Ausrichtung. Von einer fiktiven NS-Religion her stellt die Holocaust-Religion als eine Art „Satanismus“ dar: der Jude wird verehrt und als Sieger gefeiert, also derjenige, der als „Teufel“ gedacht war. Auch kann man die Holocaust-Religion als „negative Theologie“ bezeichnen, der Himmel über Auschwitz bleibt leer.

Rein formal stellt die Holocaust-Religion einen neuen Typus von Religion dar, den es so vorher nicht gegeben hat. Es ist eine Religion jenseits des Atheismus, eine Religion, der der Atheismus nichts anhaben kann und auch nicht die moderne Wissenschaftsgläubigkeit. Wäre Hitler noch am Leben, müßte er zugeben: es ist doch möglich, eine Religion zu etablieren, die nicht metaphysisch ist und keine traditionellen Formen benutzt und insofern den modernen Anforderungen genügt. Und diese Religion haben ausgerechnet die Nationalsozialisten geschaffen. Allerdings nicht orientiert an ihren Siegen und Heldentaten, sondern umgekehrt aus dem größten Verbrechen und der tiefsten Niederlage hat sich eine Art Kult gebildet.

Nun werden die Anhänger der traditionellen Religionen sagen: Die Holocaust-Religion ist keine „richtige“ Religion, sondern wird nur vergleichsweise oder gar polemisch so genannt. Sie ist höchstens eine „Ersatz-Religion“ oder „Zivil-Religion“ wie etwa die „Menschheitsreligion“, die auch keine „echte“ Religion sei. Doch solche Einwände gehen immer davon aus, daß es für den Begriff „Religion“ eine bestimmte Definition gäbe. Eine solche Definition gibt es jedoch nicht. Was Religion ist, geht immer nur aus den einzelnen Religionen hervor. Der Allgemeinbegriff bildet sich nur durch Überschneidungen. Damit wird die Bedeutung des Wortes Religion durch jede neue oder neu entdeckte Religion verändert, und zwar teilweise substantiell. Vor dem Christentum gab es keine Religion, in der Mensch und Gott eins wurden. Es gab nur Halbgötter, die keins von beiden waren. Da aber das Christentum zweifellos eine Religion ist, kann also der Mensch darin göttlichen Status erlangen. In der römischen Kaiserzeit wurden sogar alle Cäsaren zu Göttern erklärt. Auch das verstand man unter „Religion“.

Weil aber der Begriff „Religion“ so wenig sagt, bringt auch die Frage nicht weiter, ob die Holocaust-Religion eine „echte“ Religion ist, oder ob der NS ein religiöses Potential enthält, oder ob die Bilder von Ernst oder Helnwein religiöse Bilder sind. Auf jeden Fall wollen sie darauf hinweisen, daß die Ereignisse von 1933 bis 45, insbesondere die unbegreiflichen Vorgänge in den letzten Kriegsjahren, sich auf einem Niveau abspielen, das dem religiösen Niveau entspricht. Es geht hier nicht bloß um Geschichtswissenschaft oder philosophische Wissenschaft, sondern um Fragen, die jeden Menschen, egal welchen Bildungsgrades, im Innersten betreffen. Und das sind die theologischen Fragen. Ob sie nun mit herkömmlichen theologischen Kategorien noch zu erfassen sind oder herkömmliche theologische Vorstellungen aufgreifen oder nicht, ist dabei zweitrangig. Sie stehen an der Stelle, wo Theologie immer gestanden hat, nämlich an erster Stelle.
Sie haben aber auch, wie die Künstler nahelegen, eine besondere Affinität zum Christentum. Auch im Christentum ist es eine Katastrophe – die Kreuzigung –, die zur Erlösung führt. In jeder Kirche hängt der blutende gequälte Körper Christi. Dazu passen spiegelbildlich die Bilder von verhungerten und gequälten Gefangenen. Ob das nun „Religion“ ist oder etwas anderes, die beiden Bilder müssen zusammen gesehen und zusammen gedeutet werden. Sonst kommen wir nicht in den höchsten Bereich.
Matthias Grünewald, Tauberbischofsheimer Kreuzigung













Georg Tauber, KL Dachau







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