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Max Ernst, Der Hausengel (1937) |
Der Ausdruck „Ewig-Gestrige“ ist
ein wenig aus der Mode gekommen. Heute spricht man eher von „Neonazis“. Doch wo
gäbe es einen „Neonazismus“, der sich vom Nazismus wirklich unterscheidet? Es
gibt aber Leute, die vom Nationalsozialismus nicht wegkommen. Für die paßt der
Ausdruck nach wie vor. Das betrifft nicht nur die Nostalgiker, sondern auch die
Bewältiger. Es stimmt nämlich nicht, daß die Vergangenheitsbewältigung nur um
materieller Vorteile willen betrieben wird, oder um von den Verbrechen der
Kommunisten abzulenken, oder um Deutschland zu schaden. Manche Menschen fühlen
sich von den NS-Verbrechen tatsächlich erschüttert, verwirrt, „betroffen“. Auch
wenn sie gar nicht betroffen sind.
Daß man sich angesprochen fühlen kann,
ohne persönlich dabei gewesen zu sein, müßten die Nostalgiker eigentlich am
besten wissen. Geht es ihnen doch genauso, nur mit umgekehrten Vorzeichen.
„Weil wir Deutsche sind“, lautet oft die Begründung. Das kann aber nicht
stimmen. Millionen Deutsche fühlen sich weder positiv noch negativ beteiligt.
Ihnen ist die Sache egal – wenn nicht gerade eine unterhaltsame Doku oder ein
Spielfilm darüber läuft.
Zwar ist die Vorgeschichte des
Nationalsozialismus nur in Deutschland möglich, doch die Wirkung erstreckt sich
auf die ganze Welt. Das hat das Phänomen mit dem Christentum gemeinsam. Das
Christentum hat eine speziell jüdische Vorgeschichte und ist doch zur
Weltreligion geworden. Entsprechend gibt es seit einiger Zeit den Begriff der „Holocaust-Religion“.
Die Anfälligkeit für den Nationalsozialismus
– sei es als Nostalgie oder als Schuldkult – hängt weniger von der eigenen
Nationalität ab als von einer bestimmten Mentalität, die man als
„Katastrophendenken“ bezeichnen könnte. In der Psychologie bedeutet das, die
Dinge immer zu Ende zu denken. Im Alltag kann das ziemlich lästig sein. Bekommt
der katastrophische Mensch eine Mieterhöhung, hat er gleich Angst vor der
Obdachlosigkeit. „Angst“ ist ein Wort, das es angeblich nur in der deutschen
Sprache gibt. Ganz stimmt es nicht. Denken wir an Kierkegaard und seine Schrift
„Der Begriff Angst“ (im dänischen Original: „Begrebet Angest“).
Wichtiger noch als die Neigung zur Angst
ist die Neigung zur Konsequenz, die solchen Menschen innewohnt. Das
Zu-Ende-Denken hat für sie einen speziellen Reiz. Psychologisch darf man nicht
übersehen, wie gern die Bewältiger das Nie-wieder-Auschwitz beschwören. Wer vom
Nie-wieder spricht, der beschwört aber auch das Ereignis selbst herauf. Darin
liegt – rein psychologisch – der Reiz, weil „Auschwitz“ das Zu-Ende-Denken schlechthin,
die totale Katastrophe, der absolute Horror ist. Auf so eine Grenze gestoßen zu
sein, verschafft eine dunkle Befriedigung.
Auch für die Nostalgiker hat der
Nationalsozialismus den Reiz des Zu-Ende-Denkens. Glanzvoller, großartiger,
heldenhafter geht es nicht. Auch hierfür gibt es eine psychologische Kategorie,
den „Perfektionswahn“. Der Perfektionswahn und das Katastrophendenken
entsprechen sich wie Sonne und Mond. Wiederum lästig, wenn es sich im banalen
Alltag äußert. So einer hat es schwer. Und andere haben es mit ihm schwer. Das
gilt auch von den NS-Nostalgikern, daß sie es schwer haben und andere es mit
ihnen schwer haben. Weil sie Ansprüche stellen, die von der Politik gar nicht
zu befriedigen sind. Sie haben ihre Maßstäbe an das gigantische Wollen, das
gigantische Bauen und die gigantischen Leistungen gelegt (wo ist das Wort
„gigantisch“ eigentlich vor Hitler im aktiven Sprachgebrauch überhaupt
vorgekommen?). Nun sind sie durchweg enttäuscht.
Die dritte Gruppe von Leuten, wir
wollen sie „die Lauen“ nennen, hält offen oder insgeheim die beiden anderen
Gruppen (die Bewältiger und die Nostalgiker) für Spinner. Offen sagen sie es
bei den Neonazis. Heimlich lächeln sie aber auch über diejenigen, die beim
Besuch in Auschwitz zu heulen oder zu kotzen anfangen, weil auch das bedeutet,
daß man „nicht in der Gegenwart angekommen ist“. Eine beliebte Formulierung. Für
die Lauen spielt sich das Leben immer nur in der Gegenwart ab, also dort, wo
sie selber gerade sind. „Katastrophe“ ist nur, was ihnen selber passiert,
„Leistung“ nur das, was sie selber vollbringen. Das Absolute geht sie nichts
an.
Unabhängig vom Urteil ist die
Beobachtung richtig, daß es sich beim Nationalsozialismus um ein außergewöhnliches,
vielleicht gar unvergleichbares Ereignis handelt. Nun sind manche in der Lage,
solche Ereignisse zu erkennen, und manche trampeln in ihrem primitiven
Eigennutz über alles Außergewöhnliche hinweg. Das sind die Lauen. Doch die
Gegenwart ist nicht bestimmt von vordergründigen Berechnungen, sondern von großen
historischen Entwicklungen. Deshalb bleibt auch für die Tagespolitik
entscheidend die Grundfrage: Wie stellen wir uns zu dem großen Ereignis unserer
Epoche?
Viele Menschen meinen, „große
Ereignisse“ gibt es gar nicht, oder wir brauchen sie heute nicht. Die Fixierung
auf Heldengestalten oder Feindbilder sei unreif oder gar neurotisch, weil das
Leben ganz überwiegend aus Trivialitäten besteht. Diese Haltung heißt
„Realismus“. Der Realismus zielt angeblich auf „die Wirklichkeit“ ab. In der
Politik besteht sie aus Landtagswahlen und Verkehrsberuhigung. Doch der moderne
Realismus ist nur eine ganz spezielle Auffassung von Wirklichkeit, die nicht
immer gegolten hat und nicht immer gelten wird.
Es stimmt nämlich nicht, daß der
Alltag das Primäre ist und die besonderen Ereignisse sekundär. Bezeichnend ist
vielmehr das Spannungsverhältnis zwischen dem Gewöhnlichen und dem
Außergewöhnlichen. Beides ist ständig im Bewußtsein präsent. Früher nannte man
die beiden Bereiche „das Heilige“ und „das Profane“. Dabei ist „das Heilige“
ursprünglich nicht nur das Gute, sondern genauso auch das Schreckliche. Also
Gefahr und Rettung in einem. In dem Wort „Ehr-Furcht“ klingt noch mit, daß man
einen Gott, den man nicht fürchtet, auch nicht ehren kann. Man kann die beiden
Begriffe auch übersetzen als „faszinierend“ und „schockierend“. Beide
bezeichnen ein Tabu – ein Unberührbares, weil es über alle alltäglichen Belange
hinausgeht. Es entzieht sich der Verfügung. Es ist „inkommensurabel“. Genau
diese Attribute schreiben die Nostalgiker wie auch die Bewältiger dem
Nationalsozialismus zu – nur halten die einen ausschließlich das Faszinosum,
die anderen ausschließlich das „Tremendum“ fest.
Im Kino gibt es derzeit einen Film
mit dem Titel „Kriegerin“. Ein grottenschlechter Film über „Neonazis“. Die
Botschaft, die am Schluß des Films steht, richtet sich nicht nur gegen den
Neonazismus, sondern gegen jede Form von Traum, Vision oder Glauben. Sie lautet
nämlich: „Während du auf etwas wartest, was noch kommen soll, geht das Leben
das dir vorbei.“ Ja, „das Leben“. In den Augen der „Realisten“ und „Hedonisten“
läuft das immer auf Geld hinaus, Geld, Job, Sex und im höchsten Fall eine
Familie. Familie geht schon ein wenig über dieses Denken hinaus, denn die
Kinder sollen ja weiterleben, nachdem du tot bist. Eigentlich gehen dich auch
die Kinder nur partiell etwas an. Dagegen fällt in die Kategorie „reales
Leben“, je älter die Leute werden, desto mehr die eigene Gesundheit, die
Altersversorgung und schließlich das Sterben, das sich als ein langer (manchmal
jahrzehntelanger), höchst kostspieliger und mühevoller Prozeß hinzieht, da es
natürlich schwer ist, vom „realen Leben“ Abschied zu nehmen, wenn man nichts
anderes kennt und gelten läßt.
Meist glauben diese Realisten, daß
ihre Lebenseinstellung in Übereinstimmung zur Natur stehe. Sie nennen sie auch
„Materialismus“, obwohl in Wirklichkeit nur die Zivilisation in der Lage ist,
eine solche Auffassung überhaupt hervorzubringen. Es stimmt zwar: „Job“ und
„Sex“ und die Sorge um das eigene Wohl sind auch jedem Tier das Wichtigste. Nur
wird das Tier, genauso wie der Urmensch oder der sogenannte Wilde, allein durch
seine Lebensumstände, die ganz durch die Natur bestimmt sind, immer wieder in
jene besonderen Stimmungen gebracht, die der Kulturmensch gezielt aufsucht,
wenn er sich mit Mythen und religiösen Inhalten beschäftigt. Es ist einerseits
die Furcht, die zu einer alles verschlingenden Angst wird, andererseits eine
Freude und Begeisterung. die ins Absolute zielt. Das eine geht zurück auf die
Erfahrung der natürlichen Bedrohungen (das Kaninchen vor der Schlange), die
konstitutiv ist für das Dasein. Auch für den Urmenschen gehört diese äußerste
Bedrohung zum Alltag hinzu, sie ist ständig präsent und wird in den ersten
Mythen und Göttern gespiegelt. Entsprechend ist das Wohlgefühl, das Gefühl der
Sicherheit und Freiheit, nicht eine Selbstverständlichkeit wie in der Zivilisation,
sondern auch die Lebensfreude hat inmitten der natürlichen Bedrohungen etwas
Absolutes und Göttliches.
Solche Gefühle erleben wir in der
Zivilisation auf Grund der gewohnten Absicherung und andererseits der Abstumpfung,
die mit der Rundumversorgung einhergeht, kaum noch. Deshalb ist es ganz natürlich,
wenn der Kulturmensch (im Unterschied zum Naturmenschen) diese Gefühle der Absolutheit
ersehnt und innerhalb seiner Kultur in bestimmten Bildern und Erzählungen
aufsucht, in die er sich hineinträumt, für die er schwärmt, die er anbetet und
an die er „glaubt“. Da die extremen Erfahrungen
- im Negativen wie im Positiven – das Natürliche und Ursprüngliche sind,
kann man davon ausgehen, daß jeder Mensch die beschriebene Sehnsucht in sich
hat. Keiner ist mit dem angeblich „normalen“ (in Wirklichkeit zivilisierten)
Leben zufrieden, in dem nichts „Großes“ mehr geschieht. Schaut man genauer hin,
so verschafft sich fast jeder in irgendeiner Form einen Ersatz für die
„Grenzerfahrungen“, die er nicht mehr hat. Allerdings sind diese
Ersatzhandlungen meist individuell und nicht kollektiv angelegt. Jeder hat
seine „Gottheit“, und wenn es nur der Alkohol ist. Nach außen hin schwatzt man aber
von dem „realen Leben in der Gegenwart“, und daß man sich an nicht an „irgendwelche
Ideologien verlieren“ solle.
Was da abfällig „Ideologie“ genannt
wird, im speziellen Fall auch „Nostalgie“ oder „Schuldkult“, ist eine bestimmte
Weltdeutung oder Weltanschauung. Nur die Zivilisation, die die gefährliche
„Welt“ durch einen funktionierenden „Apparat“ ersetzt, macht es möglich, daß
Menschen scheinbar auf solche Gesamtdeutungen verzichten. Die realistische
Auffassung, daß es hinter den alltäglichen Erscheinungen keine weitere Dimension,
keinen höheren Sinn, kein „Geheimnis“ mehr gibt, setzt immer die Zivilisation
voraus, die uns vor allen Katastrophen schützt und von allen grundlegenden
Erfahrungen abhält.
Wer den Nationalsozialismus in den
Mittelpunkt seines Denkens stellt – sei es positiv oder negativ – geht davon
aus, daß sich im 20. Jahrhundert eine historische Wende – eine Zeitenwende –
vollzogen hat, die auch in unsere Gegenwart hineinwirkt. Die Gegenwart steht damit
unter der Entscheidung, wie man sich zum Nationalsozialismus stellt. Solche
„totalitären“ Vorstellungen sind ebenso wie die religiösen Vorstellungen im
Liberalismus verpönt. Aber sie kehren wieder. Die Frage lautet inzwischen nicht
mehr: Wollen wir überhaupt noch Religion? sondern: wollen wir zu den alten
Religionen zurückkehren, wie etwa Islam oder Katholizismus, oder wollen wir an
diejenige „Religion“ anknüpfen, die sich auf die Moderne selbst und ihre
Bewertung bezieht?
Zur Präsidentschaftswahl in den USA
äußert ein „evangelikaler“ Politiker allen Ernstes: „Unsere wirtschaftlichen
Probleme resultieren daraus, daß wir nicht auf Gott hören. Deshalb ist es das
Wichtigste, daß der künftige Präsident den richtigen Glauben hat.“ So weit sind
wir also schon gekommen, daß solche Wortmeldungen weltweit verbreitet werden. Und
das Erstaunlichste dabei ist: der Mann hat recht. Unsere wirtschaftlichen
Probleme, die zur Zeit die einzigen Probleme zu sein scheinen, sind in
Wirklichkeit geistige, ja religiöse Probleme. Niemals wird ein Politiker sie
durch ein größeres Wirtschaftswachstum lösen oder durch mehr Sparmaßnahmen oder
durch bessere Verteilung, sondern nur durch die richtige Zielsetzung. Die
„Evangelikalen“ glauben nun, ähnlich wie die katholischen Traditionalisten, daß
diese Zielsetzung in Jesus Christus liegt. Immerhin: diese christlichen
Fundamentalisten gehören nicht zu den „Lauen“, von denen es in der Offenbarung
des Johannes heißt:
„Ich kenne deine Taten, daß
du weder kalt noch heiß bist. Ich wünschte, du wärst kalt oder heiß. Weil du
aber lau bist und weder heiß noch kalt, werde ich dich aus meinem Mund
ausspeien.“
Auch die radikalen Moslems sind von
dem Vorwurf der Lauheit ausgenommen. Sie sehen ihr Ziel in Allah und in der
Befolgung der Scharia. Für beides braucht man weder ein Wirtschaftswachstum
noch Milliardenkredite. Denn die Menschen, die arm sind, erdulden ihre Armut
mit Allah, und die, die verhungern, sterben nach dem Willen Allahs. Damit ist
die Politik unabhängig. Solange man keine Autorität gefunden hat, die auch
das Sterben von Menschen durch Hunger, durch Krieg, durch Krankheit oder durch
Selbstopfer zu legitimieren fähig ist, ist kein Politiker im echten Sinne
„politikfähig“. Solange es nämlich keine Autorität gibt, die über der Politik
insgesamt steht, und von der sich politische Autorität herleitet, ist Politik die
Sklavin irgendwelcher Forderungen, die ins Unermeßliche wachsen und an denen
jede Regierung scheitern muß. Genau das hat der evangelikale US-Politiker
gemeint. Die Frage ist nur, ob das Christentum (oder der Islam) diese Autorität
heute bieten kann.
Die Diskussion ist nicht neu. Unter
dem Begriff der „politischen Theologie“ und nicht zuletzt im Bezug auf Carl
Schmitt wird sie seit einigen Jahrzehnten wieder geführt. Schmitt ist von der
katholischen Tradition geprägt. Er hält aber seinen Gott nicht (mehr) für
fähig, die oberste politische Autorität abzugeben. Deshalb erklärt er die
politische Sphäre als unabhängig und in sich abgeschlossen. Das oberste
Kriterium dieser unabhängigen politischen Sphäre ist zwangsläufig leer. Im
Unterschied zu den Liberalen, die davon ausgehen, daß es über der
Mehrheitsentscheidung keine Autorität mehr braucht, ist bei Schmitt die Stelle
noch vorhanden, aber kann nicht mehr inhaltlich ausgefüllt werden. Diese
Position ist als „Dezisionismus“ bezeichnet worden. Auf jeden Fall ist sie
unbefriedigend. Deshalb braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn Schmitt
genau diese Stelle im Jahr 1934 unter dem Druck der Verhältnisse mit Hitler
besetzt. Und sie dann nach 1945 wieder zunehmend mit der Religion füllt.
Auch die Holocaust-Religion leitet
das oberste Kriterium der Politik vom Nationalsozialismus her. Alles ist
demnach gerechtfertigt, wenn es „ein neues Auschwitz“ verhindert. Das heißt:
Politik muß in erster Linie Antifaschismus sein, auch wenn dabei andere
Interessen verletzt werden sollten. So daarf zum Beispiel die Meinungsfreiheit eingeschränkt
werden, wenn es die „Neonazis“ betrifft. Wer an die Holocaust-Religion glaubt,
würde aber auch noch weiter gehen. Im Notfall wäre auch eine Diktatur
gerechtfertigt, wenn sie das Aufkommen der „Neofaschisten“ verhindert. Dieser
Standpunkt mag in letzter Konsequenz „undemokratisch“ sein, wenigstens aber
bleibt eine solche antifaschistische Politik handlungsfähig. Sie besitzt ein
oberstes Kriterium, von dem sich alle Autorität ableitet. Der Liberalismus
besitzt überhaupt keine echte Autorität. Deshalb ist es nicht verwunderlich,
wenn sich die „Holocaust-Religion“ als heimliche Staatsreligion eingebürgert
hat.
Auch die „Neonazis“ haben wie die
historischen Nazis ein oberstes Ziel, dem sie jedes Einzelinteresse unterordnen:
den Kampf gegen die Juden. Nicht bloß der einzelne (womöglich unschuldige) Jude
wird der Feindschaft gegenüber dem jüdischen Prinzip untergeordnet und
geopfert, sondern auch die anderen Völker, selbst die Deutschen und die besten
Deutschen werden geopfert für dieses Ziel. Einerseits ist das unmenschlich (und
im höchsten Grade undemokratisch), auf der anderen Seite erhält damit das
nationalsozialistische politische Handeln eine Legitimation, die der liberalen
Politik fehlt. Der Liberalismus hat zwar keine Menschen gemordet und hat sogar
die Todesstrafe abgeschafft, aber dafür bleibt jeder Eingriff in das
individuelle Dasein im Liberalismus ohne echte Legitimation. Die Rechtfertigung
beruht nicht auf einem absoluten Wert oder Ziel, sondern einzig auf der
Annahme, daß die Regierung wiedergewählt werden und daher sich möglichst
beliebt machen will. Zumindest in Krisensituationen reicht diese Legitimation
nicht aus. Und auf der Suche nach einer „echten“ Legitimation verfällt der
liberale Staat ausgerechnet auf den Nationalsozialismus als negativen Bezugspunkt.
Die Wiederkehr des Nationalsozialismus zu verhindern, ist die eigentliche
Begründung unseres Staates. Und zwar nicht bloß aus einer Bewältigungshysterie
heraus oder unter dem Einfluß der 68er, sondern aus entscheidenden
philosophisch-theologischen Gründen. Es muß so sein, daß der
post-nationalsozialistische Staat sich existentiell auf den Nationalsozialismus
bezieht. Weil es im NS unter der Metapher der „jüdischen Weltherrschaft“ um die
Beurteilung der Moderne und des Liberalismus selber geht. Der „Schatten
Hitlers“ ist nicht etwas, aus dem man einfach „heraustreten“ kann, wie man aus
dem Schatten eines Baumes tritt.
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Baumschatten ordnen sich zu Schienensträngen. Günther Grass
(Nobelpreisträger): „Deutschland denken heißt Auschwitz denken.“ Rudolf Heß
(Stellvertreter): „Hitler ist Deutschland.“