Donnerstag, 26. April 2012

Friedrichjahr 2012

Im Zeughaus-Kino lief gestern abend der „Große König“ von Veit Harlan (1943). Die Filmreihe über Friedrich II. ergänzt die Ausstellung des Deutschen Historischen Museum (DHM) im Friedrichjahr 2012. Selbstverständlich ist dafür gesorgt, daß nicht wieder eine „Glorifizierung“ daraus wird. Vor Beginn des Films findet deshalb jedesmal eine historische Einführung statt.

Bei Friedrich II. fällt wohl jedem inzwischen das Gemälde ein, das im Führerbunker hing. Man kennt es spätestens aus dem Film „Der Untergang“. Und jeder weiß auch, warum Hitler sich gegen Ende an dieses historische Vorbild klammerte: weil auch Friedrich im Siebenjährigen Krieg zeitweise Grund zum Verzweifeln hatte und gegen eine Übermacht von Feinden antrat, um schließlich doch noch zu siegen. Im Harlan-Film wirft einer der Generäle dem König vor, „die Vorsehung herausgefordert“ zu haben. Solche Befürchtungen wirken im Nachhinein sehr eindrucksvoll – nur weiß man es vorher nicht. Die Gefahr ist, daß der Film das historische Wissen vorwegnimmt, doch die Szene, in der Friedrich sich am Ende wähnt, ist sehr realistisch getroffen. Auch das Volk hatte sich nach Kunersdorf gegen ihn gewendet.
In der Ausstellung gibt es einen Hinweis, wie weit die Identifikation Hitlers mit Friedrich II. tatsächlich ging. Sie begann nicht erst mit dem Krieg. Schon 1931 gab es im Braunen Haus ein Porträt von Friedrich hinter dem Schreibtisch. Im Salon der Alten Reichskanzlei tauchte es 1934 wieder auf. Im Berghof ist es das Bild des Kronprinzen Friedrich, gemalt von Anton Pèsne, das ab 1936 über dem Kamin hängt. Das Gemälde aus der Alten Reichskanzlei wird ab 1942 bei jedem Quartierwechsel im Flugzeug mitgeführt und hängt schließlich im Bunker. Kurz vor dem Ende schenkte Hitler es dem Piloten Hans Baur, und auf der Flucht ging es verloren.  Dabei soll es sich um eine zeitgenössische Kopie des Gemäldes von Anton Graff von 1781 gehandelt haben. Das Original ist in der Stiftung Preußischer Schlösser bis heute erhalten.
Diese Geschichte ist in einer Art „Hitler-Ecke“ in der Friedrich-Ausstellung im DHM dokumentiert. Im Katalog findet sich die Bemerkung: „Vermutlich schon vor dem Ersten Weltkrieg entdeckte der Österreicher A.H. den Preußen Friedrich II. für sich als Vorbild: Staatslenker, Feldherr, Bauherr und Künstler.“
Demnach hätte Hitler schon vor dem Entschluß, Politiker zu werden, sich einen König und Feldherrn zum persönlichen Vorbild genommen. Das ist eine kühne Vermutung. Es stimmt allerdings, daß die Friedrich-Begeisterung schon viel früher beginnt als die historische Parallele zum Siebenjährigen Krieg. Es gibt nämlich noch eine andere Parallele, die in einem weniger bekannten NS-Film dargestellt wird – natürlich ohne jede Anspielung auf den Führer. „Der alte und der junge König“ von Hans Steinhoff (1935) schildert den Vater-Sohn-Konflikts Friedrichs mit dem Soldatenkönig eindrucksvoll und drastisch. Denkt man sich den Königstitel weg, so ist der Vater Friedrichs II. ein eher beschränktes Gemüt und zudem regelmäßiger Trinker. Das „Tabakskollegium“, wo er jeden freien Abend verbringt, erweist sich als Saufgelage. Sicher ist Friedrich Wilhelm I. ein tüchtiger und erfolgreicher Monarch, und entsprechend strotzt er vor Selbstbewußtsein. Wie alle Spießer ist er unfähig, irgendeine andere Existenzform neben sich anzuerkennen, und glaubt, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Diese Wahrheit besteht aber nicht zuletzt in der Schätzung des Geldes als obersten Maßstab. Seine Sparsamkeit nutzt er auch zur Drangsalierung der Familie.
Über Adolf Hitlers Vater wissen wir wenig. Nach den Hinweisen haben wir es aber mit einem „Soldatenkönig“ im Mini-Format zu tun. Selbstbewußt durch seine beruflichen Leistungen, regelmäßiger Kneipengänger, seine Familie schikanierend und allem Höheren völlig abgeneigt. Erinnerlich ist Hitlers Beurteilung Himmlers: tüchtig, aber „ein völlig amusischer Mensch“ und deshalb nicht vertrauenerweckend. Daraus spricht die Abneigung gegen den Typus des Vaters, des praktischen Tatsachenmenschen, der seinen Sohn Adolf „nicht verstand“. Mit dem Vater sah der Knabe eine Macht sich gegenüber, die ihm im Grunde ihres Wesens fremd war. In dieser Gestalt trat die grausame Wirklichkeit erstmals dem Träumer gegenüber. Und genau so war es dem Kronprinzen ergangen. Der Vater war ihm wesensfremd und hatte doch die Macht über ihn. Er herrschte unerbittlich und ließ den Jüngeren in ohnmächtiger Wut zurück.
Emil Jannings als Soldatenkönig

Und dennoch hat der Vater recht. Das hatte Friedrich nach der Hinrichtung seines Freundes Katte in der Festung Küstrin endgültig begreifen müssen und sich daraufhin in erstaunlicher Weise gewandelt. Der vorher kunstinteressierte, kultivierte und sensible Prinz beschäftigte sich plötzlich intensiv mit Wirtschaft und Politik, wurde ein vorbildlicher Soldat – und entwickelte eine Härte und Entschlossenheit, die man nie von ihm erwartet hatte. Was zeigte das? Charakterlich hatte er sehr wohl etwas von seinem Vater mitbekommen. Und der Schwärmer in ihm muß einsehen, daß ihm die hohen Ansprüche nichts nützen, wenn er nicht die Fähigkeit hat, diese Ansprüche auch durchzusetzen. Friedrich integriert quasi die beschränkte, aber starke Gestalt seines Vaters in die eigene weit gespannte Persönlichkeit und erreicht dadurch erst die spätere politische Wirksamkeit.
Nun ist Hitlers Jugendfreund August nicht hingerichtet worden, sondern Adolf hat sich selbst von ihm getrennt, um die hohen Erwartungen des Freundes nicht schmählich enttäuschen zu müssen. Das war in den ersten Jahren in Wien, als die künstlerischen Hoffnungen gescheitert waren. Nachdem also der Vater relativ früh verstarb, hatte die harte Realität selbst die Erziehung des jungen Mannes übernommen. Ähnlich wie Friedrich mußte Adolf Hitler im Laufe der Zeit einsehen, daß die Welt sich den noch so hehren Wünschen nicht fügt. Nur wer mit harten Bandagen kämpft, kann seine Ziele auch realisieren.
Diese Parallele ist es, die Hitler nach seinem Wechsel in die Politik immer stärker zum Vorbild Friedrich gezogen hat. Hier hatte er einen Menschen gefunden, der ebenfalls aus der künstlerischen Sphäre kam, „musisch“ war – und es dennoch geschafft hatte, mit eiserner Hand über Menschen zu herrschen, die ganz anders waren als er. Er war nicht nur der Realität gewachsen, sondern sogar Herr dieser Realität.
Schwärmerische Augen, entschlossenes Kinn: Friedrich II., gemalt von Graff

Es ist allerdings klar, daß Hitler – im Unterschied zu Friedrich – nur einen temporären Wandel durchmachte. Was Küstrin für Friedrich hatte für ihn der Erste Weltkrieg bedeutet: das Erwachen aus kindlichen Träumen. Und noch erstaunlicher als die rasche Entwicklung des Kronprinzen zum militärischen und ökonomischen Fachmann ist die plötzliche politische Kompetenz  eines Außenseiters, der sich bisher fast nur mit Musik und Architektur beschäftigt hat. Machtgewinn bringt zwar dem Machtmenschen steten Genuß und kann sogar süchtig machen. Doch für den Willensmenschen – und der Träumer ist immer ein Willensmensch -  bedeutet der Umgang mit Macht nur eine stete Last – schon deshalb weil sie zum Umgang mit Menschen zwingt, die überhaupt nicht auf seiner Wellenlänge liegen. Hierbei hatte Hitler in Friedrich immer einen geheimen Verbündeten, der ebenfalls diese unablässigen Händel auf sich genommen hatte, um seine Vision zu realisieren. Es gibt aber einen Punkt, den Friedrich dabei nicht überschritten hat. Er führte zwar riskante Kriege, so weit reicht die Parallele, aber er führte keinen aussichtslosen Krieg. Ob der preußische König dazu unter Umständen in der Lage gewesen wäre, läßt sich nicht sagen. Hitler jedenfalls verließ das einmal gewählte Realitätsprinzip wieder, als sich herausstellte, daß es mit seinem Inneren nicht mehr in Einklang zu bringen war, und wandte sich erneut einer rein visionären Einstellung zu. Sie ist dadurch gekennzeichnet, den eigenen Willen den herrschenden Machtverhältnissen unvermittelt gegenüberzustellen, bis es zur Katastrophe kommt – also die Haltung, die Friedrich im Konflikt mit dem Vater bis zu seiner Festnahme an den Tag gelegt hat. Auch das war „Selbstmord“, und nur die politische Rücksicht verhinderte, daß Friedrich Wilhelm I. seinen eigenen Sohn hinrichten ließ.  
Die Verbindung zu Friedrich berührt auch das Gebiet der Religion. Zu Hitlers religiöser Tarnung gehört es auch, daß er in „Mein Kampf“ nicht von dem offensiven Atheismus spricht, den sein Vater vertreten hatte. Alois Hitler war bekannt für seinen Haß auf die „Pfaffen“ und weigerte sich, eine Kirche zu betreten. Hier folgt der Sohn ihm stärker als der – im Buch angeführten – naiv frommen Mutter. Zwar ist Hitler kein Atheist, doch über seine Ablehnung gegen die Kirchen kann es keinen Zweifel geben. Auch hier trifft er sich mit Friedrich II. Im „Großen König“ spricht dieser von „eurem Gott“, der für ihn selbst, den König, keine Bedeutung habe. Es ist zur damaligen Zeit eine Ungeheuerlichkeit, daß ein Herrscher, der seinen eigenen Machtanspruch aus dem Gottesgnadentum ableitet, selber nicht an den christlichen Gott glaubt. Entsprechend entschlüpft Friedrich gegenüber unfähigen Adligen auch der Satz: „Am besten sollte man ihnen den Kopf abschlagen“. Das weist auf die Französische Revolution voraus. Friedrich folgt dem französischen Philosophen Voltaire, der Aufklärung gegen Kirche und Aberglauben betreibt. Friedrichs Vorliebe für die Franzosen bezieht sich auf deren Modernität und deren Vernunftglauben. Erst mit Immanuel Kant sind Aufklärung und Vernunft endgültig in Preußen eingezogen. Und damit hängt auch die historische Überlegenheit Preußens gegenüber dem Habsburgerstaat zusammen.
Man darf sich also im Hinblick auf Hitler fragen: Kann jemand, der sich mit dem Preußenkönig identifiziert, eine reaktionäre Weltanschauung haben? Friedrich hat mit dem mittelalterlich fundierten Weltbild bereits gebrochen, das die Habsburger bis ins 19. und 20. Jahrhundert hineingeschleppt haben. Diese christliche Tradition sollte den Vielvölkerstaat zusammenhalten. Wie aber definiert der „große Friedrich“ den Begriff Tradition? „Dünkel, Faulheit und Feigheit“ – das ist deutlich. Nur die persönliche Leistung und nur das überprüfbare Wissen sollen zählen. Das ist genau das Gegenteil reaktionärer Einstellung. Im Krieg zwischen Preußen und Österreich trafen zwar Deutsche und Deutsche aufeinander. Doch es ging um eine historische Weichenstellung. Der Sieg Preußens bedeutete letztlich den Untergang des Habsburger Staates mitsamt seiner weltanschaulichen Grundlage. Auch wenn sich dieser Untergang noch lange hinziehen sollte.
Daraus läßt sich auch entnehmen, was die Parteinahme Hitlers für das Deutsche Reich und gegen seine geografische Heimat Österreich bedeutete. Nicht nur der Vielvölkerstaat wurde abgelehnt, sondern auch dessen Voraussetzung: die universalistische, nämliche christliche Ideologie. Das Deutsche Reich wird hingegen als Erbe Preußens betrachtet und damit als Vertreter moderner Tugenden. Auch wenn Hitler sich wiederum gegen die modernen Verfallserscheinungen wendet, so bedeutet das niemals eine Rückkehr zu reaktionären, katholischen, „österreichischen“ Vorstellungen. Das würde eine Verehrung Friedrichs II. völlig ausschließen. Und an dieser Verehrung kann kein Zweifel sein.  
  


Donnerstag, 19. April 2012

Deutscher Nationalismus 2012 - eine Antwort


Anfang April erschien auf „Deutschlandecho“ ein längerer Beitrag mit dem Titel „Deutscher Nationalismus 2012 – eine Kritik“. Der Beitrag ist anonym. Er enthält die altbekannte Forderung, die NS-Nostalgie aufzugeben und sich endlich „der Gegenwart zuzuwenden“. Herauskommen soll ein „moderner Nationalismus“. Bemerkenswert ist daran nur, mit welch frischem Optimismus immer wieder diese Vorsätze ertönen, als ob nicht der deutsche Nationalismus seit 1945 überwiegend in dem Bestreben bestanden hätte, sich vom Nationalsozialismus zu lösen oder den Verdacht davon loszuwerden und endlich in der Gegenwart anzukommen. Die aktuellen politischen Themen wechselten in diesen 70 Jahren zwar ständig, aber der deutsche Nationalismus ist niemals irgendwo angekommen. Warum sollte sich dies ausgerechnet im Jahre 2012 ändern?
Es spricht in der Tat etwas für Veränderung. Auch in dem „Nationalismus“-Text findet man einen Neuansatz. Der deutsche Nationalismus ist bisher bestimmt durch zwei Fraktionen. Die einen möchten am liebsten einen neuen Nationalsozialismus einführen, natürlich ohne die Niederlage und auch ohne die Verbrechen, die entweder ganz abgestritten oder bestimmten Einzelpersonen in die Schuhe geschoben werden. Diese Fraktion wird in der Öffentlichkeit als „die Neonazis“ bezeichnet, und das möchten sie wohl auch sein. Besser paßt jedoch der Ausdruck „NS-Nostalgiker“, weil es sich hier um eine naive Verharmlosung und Verherrlichung handelt. Die andere Fraktion könnte man als „Verdrängungskünstler“ bezeichnen. Ihr Bestreben ist das möglichst weitgehende Ignorieren der NS-Zeit. Die Verdrängungskünstler sind davon überzeugt, daß in Deutschland alles bestens stehen würde, wenn es Hitler nie gegeben hätte. Oder wenn man nach 1945 von Hitler nicht mehr geredet hätte. Die gesamte Dekadenz führen sie darauf zurück, daß durch die Nationalsozialisten die alten nationalen Werte in Mißkredit geraten seien. Die Tatsache, daß es in anderen Ländern auch nicht besser aussieht als in Deutschland, obwohl diese Länder gänzlich unbelastet vom Nationalsozialismus sind, blenden die Verdrängungskünstler gerne aus. Es ist eine bequeme Feigheit, die 12 Jahre als winzigen, unbedeutenden und zufälligen Teil der glorreichen deutschen Geschichte zu betrachten und möglichst schnell zu vergessen. Am meisten ärgern sich die Verdrängungskünstler über die NS-Nostalgiker. Letztlich meinen sie, daß nur die kontraproduktive Tätigkeit der Nostalgiker daran schuld sei, daß in Deutschland nicht längst eine nationale Regierung das Sagen hat.
Aus dieser Zweiteilung ist der Autor von „Nationalismus 2012“ immerhin ausgebrochen. Er wendet sich gegen die Nostalgiker, tritt aber nicht auf die Seite der Verdränger. Die Bedeutung des Nationalsozialismus wird nicht geleugnet, sondern eine „kritische Auseinandersetzung“ damit eingefordert. Wörtlich heißt es: „Es muß zusätzlich eine vorbehaltlose, objektive und sachliche Kritik am Nationalsozialismus möglich sein, die weder von Einfaltspinseln auf der einen noch auf der anderen Seite gestört wird.
Eine ähnliche Formulierung findet sich in einer aktuellen Broschüre mit dem Titel „Wegweiser für eine Revolution von rechts“. Dort heißt es: „Die Geschichte des Nationalsozialismus gleicht einem unvollendeten Roman. (…) Ob wir es wollen oder nicht, die Fertigstellung dieses Werkes ist der Schlüssel zur Selbstfindung unseres Geschlechts.“ Die Verfasser sind wiederum anonym. Auf die Frage, was mit „Geschlecht“ gemeint ist, erklären sie, daß sich der Ausdruck auf Menschen bezieht, die die neue Sichtweise teilen. Also nicht nur auf Deutsche. Wahrscheinlich sind solche Äußerungen kein Zufall. Nach dem Tod der letzten großen Zeitzeugen und durch die veränderte Weltlage bereitet sich eine neue Phase in der Deutung des NS vor. Ernst Nolte spielt darin die Rolle eines Vorläufers. Doch Nolte ist ein Liberaler geblieben. Was jetzt ansteht, ist die Betrachtung der NS-Zeit unter dem Vorzeichen des Scheiterns von Marxismus und Liberalismus, den beiden ehemaligen Gegnern.
Nach 1945 haben die Nationalen in Deutschland den Nationalsozialismus, soweit er in ihre Köpfe Eingang gefunden hatte, ganz schnell und gründlich daraus entfernt. Der NS erschien im Rückblick wie eine flüchtige Sternschnuppe. Die Deutschen, die seit den 20er Jahren zum NS stießen, hatten in der Mehrzahl auch vorher schon national gedacht. Sie waren entweder deutschnationale Bürgerliche oder nationalrevolutionäre Jugendbewegte oder national eingestellte Sozialdemokraten und von ihren Erlebnissen geprägte Kriegsteilnehmer. Dieses ideologische Umfeld kennen wir recht gut, weil es mehr oder weniger das gleiche ist, was seit 1945 wieder die deutsche Rechte ausmacht. Nachdem der Nationalsozialismus militärisch gescheitert war und die nationalsozialistische Ideologie von den Besatzungsmächten strengstens verboten wurde, taten die ehemaligen Nazis das, was der Mensch immer tut, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird: sie „regredierten“. Regression ist ein Begriff aus der Psychologie und bedeutet die Rückkehr zu infantilen und primitiven Verhaltensweisen. Wo diese aufgeschreckten Nazis ideologisch herkamen, dorthin ruderten sie schleunigst zurück. Und den meisten fiel es auch gar nicht so schwer, weil die diversen nationalen Denkweisen tief in der deutschen und europäischen Kultur verwurzelt sind und gut eingeübt durch das ganze 19. Jahrhundert reichten, auch sind sie kompatibel zum Christentum und zur philosophischen Tradition. Das alles weiß der Durchschnitt zwar nicht, aber es wirkt beruhigend auf ihn ein. Es stabilisiert seine eigene Position.
Die „nationalsozialistische Weltanschauung“ hingegen ist in wenigen Jahren aus dem Boden gestampft worden. Sie wendet sich gegen das christliche Abendland und vertritt eine Umwertung der Werte. Dieses neue Denken wurde wiederum innerhalb kürzester Zeit in das Volk hineingepumpt. Nur wenige haben diese Weltanschauung innerlich angenommen. Wirkliche Nationalsozialisten gab es sehr wenige. Bei den meisten war es ein äußerlicher Lack von Phrasen, unter dem die alten Anschauungen beibehalten waren. Obwohl nach außen hin der Eindruck entstand, als sei das Volk mit seinem Führer einig, wußten die NS-Führer doch und äußerten es auch gelentlich, daß die eigentliche Erziehungsarbeit erst nach dem Krieg kommen sollte. Die Propaganda mußte die Leute belügen und betrügen, um eine positive Stimmung zu erzeugen. Die entscheidenden Projekte (Judenvernichtung, Euthanasie, Kriegsvorbereitung) wurden den Leuten erst gar nicht mitgeteilt. Man hielt sie nicht für reif dazu. Und in der Tat hatten sich die Deutschen über eine Idylle gefreut, die so gar nicht bestand.
Deshalb fiel es den nationalen Deutschen nicht schwer, nach 1945 zu ihrer nationalkonservativen Denkweise zurückzukehren. Sie merkten vielfach nicht einmal, daß sie nun etwas ganz anderes vertraten, sondern glaubten, sich infolge der Ereignisse bloß gemäßigt zu haben. Der Nationalsozialismus ist aber kein extremer Nationalismus und auch kein nationaler Sozialismus. Die Vokabel „Nationalsozialismus“ muß vorwiegend als Propagandaformel gesehen werden. In Wahrheit handelte es sich um etwas, das über den Nationalismus hinausgeht, aber nicht den Sozialismus ansteuert – um eine plötzliche Abweichung vom vorgeschriebenen historischen Kurs. Ein Bruch mit der Geschichte, wie es die Gegner bis heute beklagen. Im Unterschied dazu stammen die nationalen, nationalistischen, deutschnationalen und völkischen Strömungen allesamt aus dem 19. oder sogar schon aus dem 18. Jahrhundert. Die spezielle Situation, in der der Nationalsozialismus entstand, ist aber durch das Ende des 1. Weltkrieges und noch mehr durch die Oktoberrevolution von 1917 gekennzeichnet. Darauf hat Ernst Nolte immer wieder hingewiesen.
Der NS ist in erster Linie eine Reaktion auf den „Bolschewismus“, und der Bolschewismus ist die Konsequenz aus der europäischen Fortschrittsbewegung (auch „Moderne“ genannt). Damit ist der NS die Reaktion auf das Scheitern der Moderne. Der NS befindet sich auf der gleichen historischen Ebene wie die moderne Welt. Vor allem handelt es sich beim NS genauso wie beim Liberalismus oder Marxismus um eine Weltanschauung, das heißt, es geht um das Schicksal der gesamten Welt und um den Menschen als Spezies. Die Deutschen stehen nicht deshalb im Zentrum dieser Weltanschauung, weil ihre Schöpfer Deutsche sind, sondern weil die Deutschen eine welthistorische Mission haben. Diese „globale“ Mission steht in genauer Entsprechung zur „Weltherrschaft des Judentums“. Die Interessen aller anderen Nationen und Völker hängen von dieser großen Auseinandersetzung ab. Entsprechend haben sich die Nationalsozialisten über die Interessen kleiner Völker rücksichtslos hinweggesetzt. Sie sind davon ausgegangen, daß es um ein Gesamtkonzept gegen die bolschewistische Weltrevolution (inzwischen kapitalistische Weltgesellschaft) geht. Erst innerhalb dieses Gesamtkonzepts sind dann die nationalen Fragen zu lösen. Weltherrschaft, Weltordnung, Weltrevolution und Weltanschauung sind die Kategorien, in denen der NS und speziell die Rassenideologie zu sehen sind.
Mit diesem Programm haben die Nationalsozialisten in blitzartiger Geschwindigkeit die vielen nationalen und nationalistischen Gruppen in Deutschland an die reale weltpolitische Lage des 20. Jahrhunderts herangeführt und aus ihren traditionalistischen Krähwinkeln herausgerissen. Und diese Modernität hat die Nationalsozialisten gegenüber allen anderen rechten Gruppen ausgezeichnet. Nur auf diese Weise konnte es gelingen konnte, auch ehemalige Kommunisten zu gewinnen. Und aus demselben Grund hatte die NSDAP – ganz im Gegensatz zu den nationalen Parteien von heute – großen Zulauf bei den Intellektuellen, weil die nämlich wissen, was die Stunde geschlagen hat – auch wenn sie im Handeln völlig ohnmächtig sind.
Bis heute ist dieser „moderne Antimodernismus“ das gefürchtete Kennzeichen nationalsozialistischen Ideologie. Und das gilt auch für das 21. Jahrhundert, weil der Weltlauf, trotz des Ausscheidens der Marxisten, immer noch von den modernen Grundsätzen geleitet wird. Der oberste moderne Grundsatz ist der Humanismus („Menschenrechtsideologie“). Genau dagegen tritt die Rassenideologie und speziell der Antisemitismus an. Nicht aber der Nationalismus, weil der Nationalismus gar nicht auf der Ebene der Menschheit zu argumentierten vermag. Der Nationalismus tut immer noch so, als ob sich ein Land unabhängig von der übrigen Welt regieren ließe. Das ist eine vormoderne Auffassung. Sie galt schon im 19. Jahrhundert nur noch bedingt und ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg veraltet.
Ursprünglich ist der Nationalismus selbst ein Teil der modernen Entwicklung gewesen. Nationale Vorstellungen richten sich im 18. Jahrhundert nicht gegen Fremdeinflüsse, sondern gegen die eigenen Oberschichten, Adel und Klerus, und fordern gleiche Rechte für alle Bürger. Höhepunkt dieser national-demokratischen Bewegung ist das revolutionäre Frankreich, das die rot-weiß-blaue Kokarde aufsteckt und die Marsellaise anstimmt („Allons enfants de la patrie …“). Auch in der 48er Revolution fungierte das Nationalgefühl noch als Fortschrittsmotor. Der Nationalismus ist eine historische Vorstufe des Liberalismus und Egalitarismus und kann daher niemals gegen Liberalismus und Egalitarismus ins Feld geführt werden. So dumm und „politikunfähig“ die heutigen Neonazis auch sein mögen, allein wegen ihrer Affinität zum NS sind sie allemal moderner und daher auch gefährlicher als der ganze übrige Teil des nationalen Lagers. Tatsächlich wird das nationale Lager überhaupt nur wegen seiner angeblichen Nähe zu den Neonazis in der Öffentlichkeit überhaupt noch zur Kenntnis genommen wird.
Als der Nationalismus sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den Internationalismus zu kehren begann, geriet er automatisch in konservatives und reaktionäres Fahrwasser. 1918 ist es mit dieser Herrlichkeit vorbei. Auch wenn Stauffenberg und sein Kreis von einer Restauration träumten – Hitler hätte zehnmal tot sein können, und doch wären die alten Zeiten nicht wiedergekommen. Es gab nur die „Flucht nach vorn“ durch eine aggressive Politik, wie die Sowjetunion und die Westmächte sie im Dienste ihrer Ideen ebenfalls betrieben. Andernfalls hätte man sich an eine der anderen beiden Weltanschauungen anschließen müssen. Hitler nannte das „Kapitulation“.
Entsprechend schlossen sich die meisten Deutschen nach dem Krieg entweder den Marxisten oder den Liberalen an. Einige jedoch weigerten sich – zumindest innerlich. Sie wollten weiter „deutsch bleiben“ und mißverstanden dieses Deutschtum, das als Weltanschauung noch heimliche Chancen hatte, als nationales Bekenntnis. Damit waren sie mental in die Zeit vor 1918 zurückgewichen. Der Stauffenberg-Kult in diesen Kreisen ist kein Zufall. Man tat quasi so, als ob der Nationalsozialismus überflüssig gewesen sei. In Wirklichkeit war es aber der Durchbruch zur „modernen Antimoderne“.
Damit wären wir wieder am Anfang. Aus den verschreckten Deutschen von 1945 ist die „deutsche Rechte“ und der „deutsche Nationalismus 2012“ entstanden. Zu kritisieren sind daran nicht Äußerlichkeiten oder persönliche Unzulänglichkeiten, sondern die Weltanschauung selber ist falsch bzw. gar nicht vorhanden. Wenn in bezug auf die Bundesrepublik gesagt wird: „Das System hat keine Fehler, das System ist der Fehler“, so gilt mindestens ebenso: „Der deutsche Nationalismus hat keine Fehler, der deutsche Nationalismus ist der Fehler.“
Was ist nun aber mit den „Neonazis“? Auch sie hat es seit 1945 gegeben, sie haben sich nie um das Verbotene ihres Tuns gekümmert, ja dieses noch als Anreiz genommen. Und trotzdem folgten diese Kräfte dem gleichen Reflex des blitzartigen Rückzugs nach der Niederlage. Im Grunde unterscheidet sich das politische Denken der Neonazis nicht sehr von den Nationalen. Beide verbleiben in den Kategorien des 19. Jahrhunderts und lehnen die Globalisierung verständnislos und ohnmächtig ab. Beide haben sich auf eine reaktionäre, aber letztlich harmlose Position zurückgezogen, was Deutschland betrifft. Der Unterschied besteht darin, daß der Neonazi sein politisches Gartenzwerg-Idyll mit den Nationalsozialisten verbindet. Nur im kleinen Kreis darf man sich manchmal über die Brutalitäten der angeblichen Biedermänner freuen. Das gibt immerhin Hoffnung, daß manche es besser wissen.
Ein „Neonazismus“ ist genau genommen gar nicht möglich, weil man dann das gesamte Geschehen mitsamt der Niederlage wiederholen müßte. Man darf aber auch nicht wegen dieser Niederlage hinter die Frontlinie zurückweichen. Richtig wäre ein „post-nationalsozialistischer“ Standpunkt, der die damaligen Ereignisse voll verarbeitet hat. Dabei muß man sich nicht nur den Grausamkeiten stellen, sondern vor allem den entsprechenden Denkweisen. Der NS birgt eine völlig neue antihumanistische Denkweise, die bisher weder innerhalb noch außerhalb der Rechten ernsthaft diskutiert wurde. Und doch werden die Inhalte dieses Antihumanismus immer aktueller.
Es geht nicht darum, wie es in dem erwähnten Beitrag heißt, „neue Themenfelder“ zu öffnen, sondern einen neuen Denkstil und Gefühlshaushalt zu entwickeln. Weg vor allem mit der Sentimentalität – auch wenn sie deutsche Traditionen betrifft. Wir brauchen auch keine Nazi-Propaganda zu machen, denn die hat das Publikum inzwischen durchschaut.